Ein gutes Herz und pädagogische Techniken reichen nicht aus
Initiiert wurde das Angebot durch das Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm (BFU). Ulm ist damit eines von 12 Psychosozialen Zentren (PSZ) in Trägerschaft der Caritas, die durch Mittel des Bundesfamilienministeriums gefördert werden.
Wie kommen betroffene Kinder und Jugendliche zu Ihrem Therapieangebot?
Im ersten Jahr, also 2015, waren es hauptsächlich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die über die Jugendhilfeeinrichtungen zu uns kamen. Kinder und Jugendliche, die begleitet mit ihren Eltern geflohen sind, sind entweder über unser Angebot vor Ort oder zum Teil über Ehrenamtliche zu uns gekommen. Im Jahr darauf wurden viele Kinder über Kitas bei uns angemeldet. Das hat sich aktuell stark in Richtung Schulen verändert. Das ist sehr auffällig: Im Moment kommen die allermeisten Anmeldungen über Schulen zu uns.
Bei geflüchteten Schülerinnen und Schüler zeigen sich zunehmend Anzeichen für Traumatisierungen.Adobe Stock/Roman Bodnarchuk
Woran liegt das?
Meine Einschätzung ist, dass die Kinder jetzt einfach an ihre Grenzen kommen. Ihre Kraftressourcen sind nahezu aufgebraucht und die Symptome werden deutlicher. Hinzu kommt, dass traumatisierte Kinder und Jugendliche generell zu wenig im Blick sind. Im Gegensatz zu den Erwachsenen wird häufig übersehen, dass es ihnen wirklich oft sehr schlecht geht. Laut Studien kann man davon ausgehen, dass ungefähr 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine Posttraumatische Belastungsstörung haben. Dieses Krankheitsbild kriegt man durch pädagogische Maßnahmen nicht in den Griff. Das ist, glaube ich, sehr wichtig: Speziell auch in Richtung von Ehrenamtlichen gesprochen. Mit einem guten Herz und mit pädagogischen Techniken stößt man an Grenzen, wo man einfach nicht weiterkommt und eine Therapie notwendig wird.
Wieso werden Traumatisierungen bei Kindern oft übersehen?
Eine erste Hypothese ist, dass viele geflüchtete Menschen aus kollektivistischen Gesellschaften kommen. Die individuellen Bedürfnisse von Kindern stehen dadurch nicht so sehr im Fokus. So kann es kommen, dass Eltern nicht darin geübt sind, die Bedürfnislage ihrer Kinder gut im Blick zu haben. Ein zweiter Punkt ist, dass die Kinder in den Familien oft einen impliziten Auftrag mitkriegen: "Wir sind hier, damit ihr es besser habt. Also macht euren Weg und strengt euch an." Und die Kinder versuchen, diesem Auftrag gerecht zu werden. Daher kann es sein, dass sie weniger jammern und auch nicht erzählen, wenn es ihnen schlecht geht. Drittens finden sich die Kinder viel schneller in Deutschland zurecht als ihre Eltern. Oft nehmen dann Kinder und Jugendliche selbst eine Elternrolle für ihre Eltern ein - man spricht von Parentifizierung. Beispielsweise erleben junge Geflüchtete häufig die traumatischen Flashbacks und Zusammenbrüche ihrer Eltern mit. Die Kinder versuchen dann ihre Eltern zu stabilisieren und auch zu schützen. Anstatt eigene Probleme zu äußern, zeigen sie dann eher: "Ich bin stark und ich kriege das hin."
Die unsichere Bleibeperspektive und das Leben in einer Flüchtlingsunterkunft erschweren die Behandlung.Foto: hydebrink/stock.adobe.com
Gibt es Bedingungen, welche die Behandlung erschweren?
Grundsätzlich muss man sich bewusst machen: Das Leben hat sich für die Kinder komplett verändert. Es ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Manche haben Glück und sind gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern hier. Doch häufig kommen die Kinder aus zerrissenen Familien: Beispielsweise lebt ein Kind mit dem Vater in Deutschland und die Mutter ist mit den zwei Geschwistern irgendwo in der Türkei oder in Syrien zurückgeblieben. Das macht die Situation natürlich nicht leichter. Dann gibt es Kinder, die mit Familienmitgliedern in Gemeinschaftsunterkünften wohnen. Das Lebensumfeld dort, speziell in großen Unterkünften, ist meistens nicht kindgerecht - in manchen mangelt es an Schutzkonzepten. Ein herausragendes Problem besteht bei Kindern und Jugendlichen mit ungesicherten Aufenthaltsstatus. Im engen Sinn traumatherapeutisch zu arbeiten ist erst möglich, wenn Menschen wirklich in Sicherheit sind. Hinzu kommt, dass die Angst abgeschoben zu werden es für die Betroffenen oft sehr schwer macht, für sich lebbare Zukunftsperspektiven zu finden. Es geht dann in den Beratungen oft darum, zu stabilisieren und Suizidalität zu verhindern.
Woraus gewinnen Sie und Ihr Team Kraft für die weitere Arbeit?
Es ist eine richtig anstrengende Arbeit: Die Geschichten sind zum Teil schwer auszuhalten. Aber es ist ebenso eine unheimlich dankbare Arbeit. Man kann etwas verändern. Beispielsweise sieht man, wie Kinder ihren Weg machen und ihr Lachen wieder zurückgewinnen. Das ist eine Arbeit mit sehr vielen und sehr guten Erfolgserlebnissen. Das ist mir sehr wichtig, weil öffentlich viel darüber gesprochen wird, wie groß die Herausforderungen sind. Aber der andere Teil ist genauso wichtig. In den letzten Jahren gab es einen Aufbruch in der Gesellschaft und der Fachwelt: Es sind so viele Projekte und Lösungsansätze entstanden - vieles davon funktioniert richtig gut. Das alles gibt uns Kraft und Motivation.
Was sind Psychosoziale Zentren (PSZ)?
Ein erheblicher Teil der Menschen, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung und Krieg suchen, ist aufgrund der Erlebnisse im Herkunftsland oder auf der Flucht traumatisiert bzw. hat dringenden psychologischen Unterstützungsbedarf. Psychosoziale Zentren (PSZ) für Flüchtlinge und Folteropfer sind darauf spezialisiert, diesen Menschen zu helfen. Sie bieten ein niedrigschwelliges und multiprofessionell organisiertes Leistungsspektrum für traumatisierte Geflüchtete an. Die dort tätigen Spezialist(inn)en tragen durch spezifische psychotherapeutische und psychosoziale Unterstützungsleistungen zur Versorgung und Rehabilitation von Betroffenen bei. Um vorhandene Sprachbarrieren zu überwinden, arbeiten die Psychotherapeut(inn)en eng mit Dolmetscher(inne)n zusammen. Neben der Beratung und Behandlung von Betroffenen schulen und qualifizieren die PSZ Haupt- und Ehrenamtliche, die in der Flüchtlingsarbeit tätig sind, und fördern so Netzwerk- und Unterstützungsstrukturen vor Ort.