"Die Migrationsberatung ist ein wichtiger Baustein für eine inklusive Gesellschaft"
Herr Alborino, Sie waren seit 1979 Referent und bis 2016 rund zwanzig Jahre Referatsleiter beim DCV. Können Sie uns einen Einblick in den Beginn Ihrer Tätigkeit geben?
Ich hatte in einer der ersten sozialpädagogischen Beratungsstellen in Bad Säckingen gearbeitet, bevor ich zum DCV wechselte. Damals waren die Mitarbeiter:innen im Referat nach Nationalitäten eingeteilt. Es gab Nationalitäten-Referent:innen für Kroatien, Italien, Spanien, Portugal, teilweise für asiatische Länder. Ich war damals zuständig für Italien sowie für den Bereich Jugendliche. Das Referat, das ich dann auch als Leiter übernahm, hieß "Ausländische Arbeitnehmer". Damals war für Geflüchtete und Aussiedler:innen ein Referat zuständig und für ausländische Arbeitnehmer:innen ein anderes. Das wurde später zu einem Referat zusammengeführt.
Bereits lange vor Ihrer Tätigkeit beim DCV gab es die Beratung für ausländische Arbeitnehmer:innen - aus welchen Gründen?
Bereits im 19. Jahrhundert hatte Lorenz Werthmann mit der Beratung von Italiener:innen angefangen. Das war noch vor der Gründung des DCV. Die Beratenen waren vor allem Italiener:innen, die in und um Freiburg in der Baubranche und der Textilindustrie tätig waren. Dies entsprach der klassischen Migrationsarbeit: Beratung, Begleitung, Sprachkurse, Post- und Bankverwaltung. Werthmann hatte in Rom studiert, sprach daher Italienisch und konnte so beraten. Dann gab es nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten Anwerbeabkommen. Der große Arbeitskräftemangel in Deutschland führte zunächst 1955 dazu, Menschen aus Italien anzuwerben. Die Anwerbeabkommen der Bundesrepublik mit Italien, später auch mit Griechenland, Spanien und weiteren Ländern haben dann die Notwendigkeit für eine Beratung mit sich gebracht.
Begründete sich darin die nationalitätenspezifische Beratung?
Im ersten Anwerbeabkommen 1955 wurde festgelegt, dass es einen speziellen Dienst für die angeworbenen Menschen aus Italien geben sollte. Es ging um Beratung, Begleitung und Sprachkurse. In den weiteren Verträgen mit Spanien, der Türkei, mit Griechenland, Portugal und auch Tunesien wurde das auch aufgenommen. Es hat sich dann so etabliert, dass Mitarbeiter:innen wie zum Beispiel hier im Referat einem Land zugeordnet waren, aus dem sie selbst kamen und dessen Sprache sie sprechen konnten. Für die Caritas waren die hohen Qualifizierungsanforderungen sowie ein Nachqualifizierungsangebot im Hinblick auf sozialarbeiterische Kenntnisse stets wichtige Bestandteile der Dienste.
Im Jahr 2005 wurde die Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE) mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes eingeführt und löste die Praxis der nationalitätenspezifischen Beratung ab. Die MBE ist das vom Bund geförderte Grundberatungsangebot in Deutschland für Eingewanderte und Menschen mit Migrationshintergrund ab 27 Jahren. Anders als früher ist das Beratungsangebot nicht mehr nach Nationalitäten aufgeteilt. Es zielt insbesondere darauf ab, Teilhabechancen in rechtlicher, sozialer und kultureller Hinsicht zu stärken.
Warum hat man sich bewusst gegen die Weiterführung der nationalitätenspezifischen Beratung entschieden?
Damals war ich schon Referatsleiter und hatte diese Änderung mit eingeleitet und auch forciert. Das hat zu Unmut geführt, auch unter den Mitarbeiter:innen, aber ich habe mich politisch sehr für diese Veränderung eingesetzt. Es gab große Unterschiede in den Chancen und Möglichkeiten, je nachdem, aus welchem Herkunftsland eine Person kam. Aussiedler:innen beispielsweise hatten einen eigenen Dienst, mit eigenen Inhalten, Sprachkursen mit der größten Stundenanzahl, einer gesicherten vollen Finanzierung. Menschen aus den Anwerbeländern dagegen hatten etwas weniger gute Chancen, und es bestand eine schlechtere Finanzierung der Dienste. Und dann gab es ja noch die Personen, die in keine der beiden Kategorien fielen - und die hatten gar keine spezifischen Beratungsangebote. Diese Unterschiede und die Ungleichheit waren für mich der Hauptgrund, die Nationalitätenspezifische Beratung aufzulösen. Sicherlich war die Umstellung eine große Herausforderung, auch für die Mitarbeiter:innen hier im Referat. Es gab neue Schwierigkeiten in Beratungskontexten, wie die Gewinnung von Personal, das den neuen Qualifikationsanforderungen entsprach. Sprache und Nationalität waren von da an nicht mehr die Kernkompetenzen, vielmehr ging es um ein einschlägiges Studium. Dadurch entstand in der Beratung dann aber auch eine sprachliche Herausforderung. Plötzlich mussten Dolmetscher:innen eingesetzt werden, um eine adäquate Verständigung zu gewährleisten. In der Tat ist auch heute in der Praxis der Migrationsberatung die Sprache in allen Bereichen äußerst wichtig. Es ist essenziell, dass sich alle Beteiligten verstehen. Häufig sind daher Sprachmittlungen durch Dritte nötig, welche aber nicht immer "greifbar" sind. Außerdem kann der Einsatz von Sprachmittler:innen auch als störend empfunden werden.
Wie schätzen Sie diese Herausforderung ein?
Es gibt zum Beispiel seit 2015 einen Dolmetscher:innen-Pool in Freiburg, der von der Stadt unterstützt wird. Diese Dolmetscher:innen werden auch fortgebildet in sensiblen Themen, wie zum Beispiel dem Umgang mit belastenden Beratungsanliegen, und hinsichtlich einer adäquaten professionellen Distanz zu der ratsuchenden Person. Ich denke, dass es sehr wichtig ist, dass die Dolmetscher:innen sensibilisiert werden, also auch ausgebildet werden für ihren Einsatz. Es reicht nicht, einfach nur die Sprache zu beherrschen. Es braucht eine besondere Sensibilität, es geht um medizinische oder juristische Themen. Die Sensibilität muss im Vordergrund stehen, schließlich gibt es auch geschlechts- und diversitätssensible Beratungsthemen.
Die Ausgestaltung der Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer im kommenden Jahr war zuletzt ungewiss, es stand eine Mittelkürzung zur Debatte. Was glauben Sie, wie sich die MBE entwickelt, und welche Entwicklungen erhoffen Sie sich?
Ich denke, die Migrationsberatung ist heute von großer Bedeutung. Sie ist ein wichtiger Bestandteil für die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft. Die Arbeit in der Migrationsberatung ist anspruchsvoll, mit vielen Herausforderungen und Schattierungen: Es kann um Wohnungsnot gehen, um Ungleichbehandlung, um die Sprachbarriere und vieles mehr. Die Frage des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist eine schwierige. Es gibt in diesem Bereich eine große Absonderungstendenz: Menschen werden in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht - hospitalisiert, könnte man auch sagen. Außerdem gibt es auch heute noch eine große Ungleichbehandlung. Aus der Ukraine Geflüchtete haben andere Chancen und Möglichkeiten als Menschen aus anderen Ländern. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich begrüße es, wie mit Menschen aus der Ukraine umgegangen wird. Ich würde mir das aber für alle wünschen, die zu uns kommen. Es gibt auch eine Tendenz, dass männliche geflüchtete Jugendliche häufig in die Schlagzeilen kommen, wenn sie gesetzeswidrig handeln oder anders negativ auffällig sind. Es gibt kaum Berichte über positive Dinge, Projekte und Entwicklungen zu diesem Personenkreis. Das prägt die Wahrnehmung einer Gesellschaft. Wir brauchen also im Bereich der Migrationsarbeit einerseits die Einzelfallberatung und die Unterstützung individueller Anliegen. Andererseits braucht es aber auch ein gesellschaftliches Signal, eine positive Botschaft nach außen.
Weitere Infos zu den Migrationsdiensten der Caritas können Sie folgender Website entnehmen (Kurzlink): https://bit.ly/3EVFTxS