Kolonialgedanken und Deutschtümelei – Kritischer Blick auf den ersten Caritas-Präsidenten
Der erste Caritas-Präsident Lorenz Werthmann hat im 19. Jahrhundert die vielen caritativen Initiativen der Kirche gebündelt und organisiert. Werthmann hat nicht nur andere aufgefordert, sich gegen das Elend der Menschen zu stemmen. Er hat dies selbst intensiv getan. Er wollte die Not der Menschen lindern - mittels einer gut funktionierenden sozialen Infrastruktur. Die Begründung der vielfältigen sozialen Arbeit in einer verbandlichen Caritas - das ist die Lebensleistung Werthmanns. Heute engagieren sich insgesamt 1,2 Millionen ehren- und hauptamtlich Mitarbeitende in der Caritas. Aber Lorenz Werthmanns Wirken hatte auch eine Schattenseite: Kolonialgedanken und "Deutschtümelei".
Interview mit Dr. Heiko Wegmann. Er forscht, lehrt und publiziert zur deutschen Kolonialgeschichte (u.a. Lehrauftrag der Universität Luzern 2013).
Redaktion: Lorenz Werthmann war Experte für "Auswanderung" und "Deutschtum in Übersee". 1910 und 1924 gehörte der Deutsche Caritasverband zu den Veranstaltern des "Deutschen Kolonialkongresses". Was war die Rolle des Caritasverbandes und Werthmanns bei den Kongressen?
Heiko Wegmann: Die Kolonialkongresse im Reichstag waren Großveranstaltungen, bei denen unter der Leitung der Deutschen Kolonialgesellschaft zahlreiche Verbände, Kirchen und Vertreter der Wissenschaft zusammenkamen. Der Kolonialbewegung ging es von Anfang an auch um die Lenkung der Massenauswanderung und die Erhaltung des sogenannten "Deutschtums" in Übersee. Der Caritasverband war seinerseits unter anderem mit dem "Raphaelsverein zum Schutze katholischer deutscher Auswanderer" in der Auswandererberatung aktiv.
Wegmann: Es gab zwar durchaus Konflikte zwischen Katholiken einerseits und Kolonialverwaltung und -vereinen andererseits. So prangerten katholische Politiker wie Matthias Erzberger das Fehlverhalten von Kolonialbeamten im Reichstag an. Dennoch standen Kirche, Caritasverband und insbesondere Lorenz Werthmann im Lager derer, die den Kolonialismus grundsätzlich befürworteten und mit dafür arbeiteten.
Werthmann widersprach dem Kolonialrassismus nie öffentlich
Redaktion: Sie erwähnen in Ihren Recherchen den Kolonialrassismus, der die "Rassenmischung" in den deutschen Kolonien kritisierte und die katholische Lehre von der Gleichheit der Menschen infrage stellte. Hat Lorenz Werthmann hier Widerspruch öffentlich gemacht?
Wegmann: Nein, das hat er nicht, im Gegenteil. Man muss zunächst eines bedenken: Koloniale Fremdherrschaft war aus der Sicht der deutschen Kolonisatoren eng mit der Frage verbunden, wie der Anteil der "weißen" Bevölkerung erhöht werden konnte. Man wollte seine Kultur erhalten und sich dauerhaft von der einheimischen Mehrheitsbevölkerung abgrenzen. Um dem hohen Überschuss an Männern entgegenzuwirken, wurde gezielt die Auswanderung von heiratsfähigen weißen Frauen gefördert. Diese Frauen wurden vor allem nach Deutsch-Südwestafrika geschickt, dem heutigen Namibia. In der Realität kam es jedoch weiterhin erstens zu teilweiser kultureller Anpassung. Der Kampfbegriff dafür lautete "Verkafferung". Und es kam zu – freiwilligen wie auch erzwungenen – sexuellen Beziehungen zwischen Kolonisten und einheimischen Frauen. Vor allem, weil daraus Kinder hervorgingen, wurde in kolonialen Kreisen der Verfall der "deutschen Rasse" und Kultur angeprangert. Und es wurde das Gespenst der Entstehung einer angeblich minderwertigen, entwurzelten und potenziell gefährlichen "Mischlingsrasse" an die Wand gemalt. Um dies zu verhindern, wurden Beziehungen sozial geächtet und es wurde über gesetzliche "Mischehenverbote" in den Kolonien wie auch in Deutschland debattiert.
Debatte um "Mischehenverbot"
Redaktion: Haben Sie ein Beispiel zur Debatte um "Mischehenverbote"?
Wegmann: In den katholischen Reihen existierte bei diesen Fragen ein fundamentaler innerer Widerspruch. Dies wird bei der Konferenz des "Missionsausschusses des Zentralkomitees der Katholikenversammlungen Deutschlands" 1912 in Aachen deutlich. Werthmann nahm daran als Schriftführer teil und publizierte die Dokumentation der Konferenz "Die Rassenmischehen in den deutschen Kolonien" im Verlag des Caritasverbandes. Der Titel zeigt schon die Haltung zum Thema. Eine Grundlinie war, dass man von verschiedenen "Rassen" ausging, Afrikanerinnen und Afrikaner für kulturell und intellektuell minderwertig hielt. Missionare täten deshalb seit jeher alles in ihrer Macht Stehende gegen eine "Vermischung", hieß es da.
"Eine Grundlinie war, dass man von verschiedenen ,Rassen‘ ausging, Afrikanerinnen und Afrikaner für kulturell und intellektuell minderwertig hielt."
Heiko Wegmann über die Haltung zu "Rassenmischehen"
Wegmann: Werthmann hat diesen Vorschlag mit der Publikation verbreitet und keinen Widerspruch erhoben. Bachem dachte vermutlich, damit würde man den Kindern, die von ihren deutschen Vätern oft nicht anerkannt und unterstützt wurden, etwas Gutes tun. Doch die vorgeschlagene zwangsweise Unterbringung erinnert mich sehr an die Zwangsassimilierung von indigenen Kindern in Residential Schools in Kanada. Das war dort bereits seit dem 19. Jahrhundert grausame Praxis staatlicher Einrichtungen, die von Kirchen geführt wurden. Das Auseinanderreißen der Familien, Misshandlungen und das Einhämmern christlicher Kultur bei Stigmatisierung ihrer eigenen Kultur waren traumatische Erfahrungen der indigenen Gemeinschaften. Im Jahr 2021 ging ein Schock nicht nur durch Kanada, als Hunderte unidentifizierter Kindergräber auf dem Gelände ehemaliger Internate gefunden wurden.
Redaktion: Wie war Lorenz Werthmanns Haltung im Ersten Weltkrieg zum Kolonialbesitz des Deutschen Reichs?
Werthmann Befürworter von neuen deutschen Kolonialgebieten
Wegmann: Werthmann hoffte auf einen Sieg der deutschen Waffen. Dieser sogenannte "Siegfrieden" sollte eine "in Blut und Kampf" erworbene Gebietserweiterung und eben auch eine Vergrößerung des Kolonialreiches erbringen. Er hoffte auf die "Erwerbung neuer Untertanen", denen er die "Segnungen des Christentums" bringen wollte. Man müsste wohl sagen, des deutschen Christentums, denn es ging ja um Gebiete, die bereits von anderen christlich geprägten Staaten kolonisiert waren.
Redaktion: Während des Ersten Weltkrieges schloss sich Werthmann einem Kolonialprojekt an, dessen Ziel die deutsche Annexion und Germanisierung von militärisch besetzten Gebieten im Baltikumwar. Können Sie dazu etwas sagen?
Wegmann: Ja, das war ein Projekt verschiedener Akteure, die sich oft schon aus der auf Übersee gerichteten Kolonialbewegung kannten. Sie schlossen sich in der "Vereinigung für deutsche Siedlung und Wanderung" zusammen, deren Vorsitzender der ehemalige Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika, Friedrich von Lindequist, wurde. Neben politisch weit rechtsstehenden Elementen wie dem Alldeutschen Verband, der das Projekt initiiert hatte, gehörten auch der Raphaelsverein und der Caritasverband dazu. Ein weiteres Mitglied war der nationalistische und teilweise sogar völkische Verein für das Deutschtum im Ausland, in dem sich Lorenz Werthmann auch engagierte.
Werthmann engagierte sich im teils völkischen "Verein für das Deutschtum im Ausland"
Wegmann: Werthmann und vor allem Clemens August von Galen, der spätere Bischof von Münster, repräsentierten als Gründungsmitglieder die katholischen Interessen in dem Projekt. Sie hatten weit weniger radikale Germanisierungs- und Annexionspläne als die Alldeutschen. Aber auch sie wollten, dass Teile des Baltikum nicht katholisch werden, nämlich Litauen und Teile Lettgallens im heutigen Lettland. Durch gelenkte katholische Auswanderung im Anschluss an die historische deutsche Ostkolonisation sollten Deutschlands Weltmachtstellung ausgebaut und gleichzeitig innere soziale Spannungen gemindert werden. Sie hegten die sozialromantische Vorstellung einer von katholischen Adeligen geführten, ständischen kolonialen Gesellschaft als Gegenentwurf zu den stärker werdenden Rufen nach Demokratisierung. Dabei hofften sie auf freiwillige Assimilierung der dortigen, von ihnen als niedrigerstehend betrachteten Bevölkerung. Bemerkenswert ist, dass von Galen und Werthmann noch im Sommer 1918 zu einer mehrwöchigen Erkundungsreise ins besetzte Baltikum fuhren. Der Kriegsverlauf vereitelte dieses Projekt jedoch.
"Sie hegten die sozialromantische Vorstellung einer von katholischen Adeligen geführten, ständischen kolonialen Gesellschaft als Gegenentwurf zu den stärker werdenden Rufen nach Demokratisierung."
Heiko Wegmann über die Vorstellungen von Werthmann und Bischof Clemens August von Galen
Redaktion: Wie reagierte Lorenz Werthmann auf das Ende der deutschen Kolonialherrschaft, das im Juni 1919 mit der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages besiegelt wurde?
Wegmann: Als Anfang 1919 bekannt wurde, dass das Deutsche Reich seine Kolonien dauerhaft verlieren sollte, war Werthmann empört. Er reihte sich in eine prokoloniale Front ein, die nun sogar die Mehrheits-SPD einschloss. Auf einer Protestkundgebung pochte er auf ein Recht der Deutschen auf "ihre" Kolonien.
Werthmann war nach dem Ersten Weltkrieg empört über Verlust der deutschen Kolonien
Redaktion: Sie schreiben, dass Werthmanns Konzept christlicher Mission an die politisch-militärische Beherrschung der zu "belehrenden Heiden" geknüpft war. Wie begründen Sie das?
Wegmann: Grundsätzlich war es so, dass der – bewaffnete – koloniale Staat den schützenden Rahmen für die Ausbreitung der christlichen Mission lieferte, auch wenn es Missionen schon früher gab. Werthmann begründete das Recht auf Kolonien selbst mit der christlichen Religion, die die "Heidenbelehrung" gebiete. Er führte weiter den "Kulturfortschritt der Menschheit" und die "Interessengemeinschaft der weißen Rasse" als Argumente an. Die Kriegsgegner hätten dagegen das Ansehen der Weißen in den Kolonien "unverantwortlich geschändet". Den Missionaren dürfe ihr Arbeitsfeld aber nicht genommen werden. Wie herablassend diese Argumentation war, merkt man schon daran, dass er den immer wieder aufgeflammten Widerstand von Kolonisierten gegen die deutsche Kolonialherrschaft völlig ausblendete und über ihre Köpfe hinweg sprach.
+++ Sie wollen mehr über Lorenz Werthmann erfahren? Im "neue caritas-Jahrbuch 2022" schreibt die Leiterin des Caritas-Archivs Dr. Gabriele Witolla, wie sich der erste Caritas-Präsident für italienische Einwanderer einsetzte." +++