Werthmanns Weitsicht ebnet Weg zur heutigen Caritas
Schon zu Beginn seiner Tätigkeit am Ordinariat in Freiburg als Sekretär des Erzbischofs widmete sich Lorenz Werthmann den italienischen Saisonarbeitenden, die um die Jahrhundertwende nach Freiburg gekommen waren. Die anhaltende Agrarkrise in ihrer Heimat hatte sie zur Arbeitsmigration gezwungen. Die Saisonarbeiter waren als Maurer, Steinhauer, Ziegler oder Tagelöhner tätig, die Saisonarbeiterinnen überwiegend in der Textilindustrie. Die Beschäftigung mit sozialen Fragen sensibilisierte Werthmann schon früh für die sozialen Belange von in der Gesellschaft Benachteiligten. Er erkannte, dass die seelsorgliche Betreuung der Menschen nicht ausreichte, sondern um materielle Hilfen ergänzt werden musste.
Arbeitersekretariate nach Vorbild der Gewerkschaften
Den Gewerkschaftssekretariaten vergleichbar, richtete Werthmann 1896 deshalb das "Italienische Arbeitersekretariat" in Freiburg ein, nach heutigem Verständnis eine Sozialberatungsstelle für ausländische Arbeitnehmende. Dort wurden den Ankommenden Beratung zu Arbeits- und Wohnmöglichkeiten, zu Rechtsfragen, Hilfe bei Behördengängen, Dolmetscherdienste und Sprachkurse angeboten. Zur Pflege ihrer Kultur unterstützte man italienische Vereine bei Theater- und Musikaufführungen. Es wurde sogar eine Sparkasse für Italiener eingerichtet. Die Zahl an italienischen Saisonniers im Erzbistum Freiburg vergrößerte sich stetig. Von Freiburg aus organisierte Werthmann die Verteilung von italienischen Missionspriestern innerhalb Deutschlands. 1904 gab es bereits 31 nach dem Freiburger Vorbild geschaffene Arbeitersekretariate in Deutschland.
Erfahrungen mit den italienischen Missionaren veranlassten Werthmann zu einer Neuorganisation der "Italienerfürsorge". Im April 1909 rief er eine Vereinigung Italienisch sprechender Priester in Deutschland zur ehrenamtlichen Unterstützung in der Migrantenpastoral ins Leben. Ihre Geschäftsstelle wurde als Fachsektion in den DCV eingebunden. Diese übernahm fortan die Betreuung der italienischen Saisonniers und hatte in kürzester Zeit deutschlandweit ein Netz von "Pastorations- und Fürsorgestellen" aufgebaut.
Von der "Italienerseelsorge" zum Migrationsdienst
Lorenz Werthmann hat damit in Freiburg den Grundstein für die Auslandsseelsorge gelegt, die bis heute besteht. In den rund 20 Jahren seit Eröffnung des Freiburger Arbeitersekretariats hat er eine Organisationsform für die Auslandsfürsorge geschaffen, die nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgenommen und für Arbeitnehmende zahlreicher Nationalitäten weiterentwickelt wurde. Sie sieht vor, in allen größeren Orten mit "Migranten-Kolonien" einen Geistlichen aus dem Land der Muttersprache zu stationieren und eine Caritas-Sozialberatungsstelle einzurichten. Ziel: die ethnisch-kulturellen Eigenheiten der eingewanderten Bevölkerung zu erhalten und in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld zu bewahren.
Der Wirtschaftsaufschwung in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg führte zur Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften. Für die Betreuung der seit dem ersten Anwerbeabkommen mit Italien (1955) aus Italien, dann auch aus Spanien, Portugal und dem (ehemaligen) Jugoslawien stammenden sogenannten "Gastarbeiter" konnte das Werthmann’sche Modell der seelsorglichen und fürsorgerischen Betreuung für Arbeitsmigranten übernommen werden. Ein Netzwerk an Caritas-Beratungsstellen mit zweisprachigen Sozialbetreuenden wurde aufgebaut.
Im Laufe der 60er-Jahre zeichnete sich ab, dass immer mehr "Gastarbeiter" ihr gesamtes Leben in Deutschland verbringen würden. Der Nachzug von Familienangehörigen wurde zum neuen Thema in der Caritas-Sozialarbeit. Mit späteren Flüchtlings- und Aussiedlerströmen mussten die Caritasdienste sich immer wieder neu ausrichten. Neben den Arbeitsmigranten wurden nun auch Asylbewerber, Aussiedler und Flüchtlinge von den Caritasstellen betreut. Die interkulturelle Öffnung der Dienste und Einrichtungen der Caritas ebnet heute den Weg zur gesellschaftlichen Teilhabe.
Von der Hauptvertretung Berlin zum "Haus der Caritas"
Seine Weitsicht führte Werthmann zu der Einschätzung, dass die militärischen und politischen Entwicklungen 1917 eine Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg zur Folge haben würden. Aus diesem Grund rechnete er mit einer Rück- und Auswanderungsbewegung nach Ende des Krieges. Nur in enger Tuchfühlung mit den verschiedenen Reichsbehörden in Berlin war diese Aufgabe zu lösen. Dies nahm Werthmann zum Anlass, die schon länger geplante Vertretung der Bundeszentrale des DCV in der Hauptstadt umzusetzen. Im Oktober 1918 wurde das erste Hauptstadtbüro eröffnet. Die Berliner Vertretung sollte die Interessen des DCV gegenüber den Reichsbehörden, preußischen Landeszentralbehörden und den interkonfessionellen Verbänden der Wohlfahrtspflege wahrnehmen und den Kontakt zu den katholischen Parlamentariern des Reichstags und des preußischen Landtags etablieren.
Eingebettet in den Weimarer Wohlfahrtsstaat konnte sich die Hauptvertretung nach Behebung der gröbsten Nachkriegsnot der Lobbyarbeit zuwenden. Diese umfasste die Mitwirkung an der Sozialgesetzgebung, insbesondere dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz. Des Weiteren waren die Verbindung zur Liga der Freien Wohlfahrtspflege (heute Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege) zu halten und unter anderem die Probleme im Krankenhauswesen aufzugreifen, in dem sich Kommunalisierungstendenzen abzeichneten.
Neue Herausforderungen ergaben sich in der Zeit des Nationalsozialismus, als die Machthaber die Gleichschaltung der bestehenden Wohlfahrtsverbände mit dem NS-eigenen Verband versuchten. Die Verantwortlichen von Caritas und Diakonie in Berlin konnten den Einfluss der NSDAP zurückdrängen. Überdies gelang es der Caritas, durch das "Caritas-Notwerk" politisch und religiös Verfolgte, insbesondere Juden, finanziell oder anderweitig zu unterstützen.
Deutsch-deutsche Caritasarbeit
Nach dem Zweiten Weltkrieges zeichnete sich rasch ab, dass in der geteilten Stadt Berlin die dortige Dépendance, die ihren Sitz im Westen der Stadt hatte, zukünftig andere Aufgaben bewältigen musste. 1951 errichtete der DCV in der neuen Hauptstadt Bonn eine Hauptvertretung. Zwei Jahre nach der Gründung der DDR 1949 glaubte man nicht mehr an eine baldige Vereinigung Deutschlands.
Seit Anfang der 60er-Jahre war die Hauptvertretung in Westberlin zunehmend zu einer Umschlags- und Zulieferungsstelle für die diözesane und zentrale Caritasarbeit in der DDR geworden. Sie leistete oder vermittelte alle notwendigen finanziellen und materiellen Hilfen, die zugunsten der Arbeit in der DDR von Westberlin, Westdeutschland und dem westlichen Ausland gegeben wurden. Die Hauptvertretung übernahm die Verteilung der Gelder an die Caritasverbände sowie an die Einrichtungen der caritativen Arbeit in der DDR und pflegte auch den Kontakt mit den Diözesanverbänden in Westdeutschland. Sie bemühte sich um den Freikauf politischer Gefangener und um Familienzusammenführung.
Das Ostberliner Caritas-Büro wurde 1951 im St. Hedwigs-Krankenhaus eingerichtet. Von da an gab es drei Hauptstadtbüros, zwei in Berlin und eines in Bonn. Das Ostberliner Büro, ab 1969 "Zentralstelle Berlin", fungierte als Koordinierungsstelle der gesamten Caritasarbeit in der DDR. Beide Berliner Büros hatten schon 1953 zusammen begonnen, die Fundamente für fast alle Ausbildungsstätten zu legen, insbesondere im fürsorgerischen und erzieherischen Bereich.
Ausbildungsstätten entstehen
Schon bei der Verbandsgründung hatte Lorenz Werthmann die fachliche Aus- und Weiterbildung der Mitarbeitenden als bedeutend herausgestellt. Der Sozialen Frauenschule, deren Gründung 1920 den Beginn eines verbandseigenen sozialen Schulwesens einleitete, folgten die Gründungen des Jugendleiterinnenseminars (1927), des Seminars für Wohlfahrtspfleger (1927) und des Seminars für Seelsorgehelferinnen (1928).
Die soziale Ausbildung bei der Caritas wurde stetig vorangetrieben und mündete schließlich 1969 im Zusammenschluss von Sozialer Frauenschule und dem Seminar für Wohlfahrtspfleger zur "Höheren Fachschule für Sozialarbeit". Diese war die Vorgängerin der zwei Jahre später errichteten "Katholischen Fachhochschule für Sozialwesen und Religionspädagogik beim DCV"; ab jetzt nahm die praxisorientierte Ausbildung auf wissenschaftlicher Grundlage Gestalt an. Seit 2010 führt sie den Namen "Katholische Hochschule Freiburg" und ist heute die größte Hochschule im Bereich Sozial- und Gesundheitswesen in Baden-Württemberg.
Zeitschrift und Bibliothek
Aus der Überzeugung heraus, dass nur eine umfassende Fachausbildung der Mitarbeitenden zu einer Professionalisierung der sozial-caritativen Arbeit führen könne und diese auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müsse, begann Werthmann noch vor der Verbandsgründung mit der Herausgabe "seiner" Zeitschrift "Charitas", aus der die heutige "neue caritas" hervorgegangen ist. Sie informiert zweiwöchentlich über die praktische Caritasarbeit und über wissenschaftliche Diskussionen aus dem sozialen Sektor.
Auch richtete Werthmann in seiner Wohnung eine erste Fachbibliothek für Soziales ein. Diese bildete den Grundstock für die heutige Caritasbibliothek in Freiburg. Sie ist eine einmalige Spezialbibliothek für Soziales in der Bundesrepublik. Mit einem Bestand von über 285.000 Bänden und einem hohen Anteil an grauer Literatur ist sie eine wichtige Anlaufstelle für Forschung und Wissenschaft, auch weil sie dem überregionalen Bibliotheksverbund und dem internationalen Leihverkehr angeschlossen ist.