Agnes Neuhaus setzt Grundstein der katholischen Fürsorge, Wohlfahrt und Frauenarbeit
Redaktion: Was hat Syphilis mit der Entstehung des heutigen Sozialdienstes katholischer Frauen zu tun?
Agnes Neuhaus (fiktiv): 1899 entschloss ich mich an der ersten Versammlung der öffentlichen Armenpflege in Dortmund teilzunehmen, die speziell für Frauen gegründet wurde. Der damalige Stadtrat Henrici suchte diejenigen Fälle aus, die besonders die Hilfe einer Frau brauchten. So wurde mir die Betreuung einer Witwe zugeteilt. Ich suchte und fand sie im städtischen Louisenhospital - auf der Syphilis-Station. Dort sah ich jedoch nicht nur diese Frau, sondern viele junge Mädchen um die 18 Jahre. Alle erkrankten durch ihre Beschäftigung als Prostituierte an Syphilis und wurden von der Polizei eingeliefert.
Frauenhilfe war dringend nötig
Redaktion: Was hat dieses Erlebnis mit Ihnen gemacht?
Neuhaus: Ich ging fast schwankend über den Vorplatz - tief betroffen von diesem Elend, das ich das erste Mal sah. Bis zu diesem Tag hatte ich von diesen traurigen Dingen nicht mal gehört: Man sprach damals nicht so viel davon wie heute. Dennoch fühlte ich in diesem Moment tief, dass Frauenhilfe hier dringend nötig war. Mich durchdrang zudem mit großer Kraft die Überzeugung, dass es sich hier um eine seelsorgerische Arbeit handle. Deshalb ging ich sofort zu meinem zuständigen Pfarrer, den jetzt längst verstorbenen Herrn Propst Löhers, der die spätere Fürsorgearbeit von Beginn an unterstütze.
Redaktion: Wie sah Ihre Arbeit zu Beginn konkret aus?
Neuhaus: Ich habe mich selbstverständlich um jedes einzelnen Mädchen gekümmert. Doch meine endgültige Hilfe bestand ausschließlich darin, diejenigen Mädchen, die nicht zu ihren Familien zurück konnten, in Klöster vom Guten Hirten unterzubringen. An eine andere Art der Hilfe habe ich damals nicht gedacht.
Redaktion: Sie mussten Ihren Ansatz jedoch weiter entwickeln?
Neuhaus: Daran führte kein Weg vorbei. Die Zahl der Schützlinge und damit die Zahl der Unterbringungen nahm sehr schnell zu. Herr Probst und ich beschlossen deshalb, einen Verein zu gründen.
19. Juni 1900: Neuhaus gründet "Verein vom Guten Hirten"
Redaktion: Das geschah noch im selben Jahr, im Advent 1899?
Neuhaus: Zwar ging ich am ersten Adventssonntag mit einigen wenigen Damen in dieser Absicht in die Kirche. Doch eine Gründungsversammlung haben wir nicht gehalten. Den offiziellen Gründungsvortrag hielt der Hochwürdige Herr Pater Seiler S. J., der vielfach seelsorgerisch in den Klöstern vom Guten Hirten tätig war, am 19. Juni 1900. Mit diesem Vortrag war unser Verein offiziell eingeführt. Daher rechnen wir dieses Datum als unseren Gründungstag. Den neuen Verein nannten wir folgerichtig "Verein vom Guten Hirten". Denn ich hatte ja nur den einzigen Vereinszweck vor Augen, die auf der Krankenstation getroffenen Mädchen den Schwestern vom Guten Hirten zuzuführen und für die notwendigen Mittel zu sorgen.
Redaktion: Wie ging es dann weiter?
Neuhaus: Gleich bei unserem ersten Besuch nach der Gründungsfeier trafen wir auf der Krankenstation ein 19-jähriges Mädchen. Sie wies unsere Hilfe zurück mit der Begründung, dass ihr bereits in Köln eine Dame helfe. Es war Frau Le Hanne. Sie kümmerte sich bereits seit zehn Jahren um Mädchen im Kölner Gefängnis, die nachts von der Polizei aufgegriffen wurden. Unser Erfahrungsaustausch beflügelte unsere Arbeit ungemein. Bereits am 8. Dezember desselben Jahres gründeten wir einen Verein zum Guten Hirten in Köln und Aachen. Dann entstand ein Verein nach dem anderen.
Redaktion: Wie hat sich die Vereinsarbeit seit der Gründung weiterentwickelt?
"Viele Mädchen gingen damals zugrunde, weil sie abends kein
schützendes Dach über sich hatten." – Agnes Neuhaus
Neuhaus: Wir bekamen ein großes Zimmer im Louisenhospital. Da dieses bald gefüllt war, bauten wir durch die Hilfe unseres Herrn Propst 1903 unser erstes Zufluchtshaus - das Vincenzheim in Dortmund. Mit der Zeit haben sich unsere Einrichtungen weiterentwickelt und dem Bedarf der Hilfebedürftigen angepasst. Neben der Aufnahme von unehelichen Müttern kümmerten wir uns unter anderem um schulentlassene Fürsorgezöglinge, geschlechtskranke Mädchen und gefährdete schulpflichtige Kinder. Infolge der Aufnahme von unehelichen Müttern mit ihren Kindern sind zudem große Säuglingsstationen entstanden.
Redaktion: Zum Abschluss: Welches Motto liegt Ihrer Arbeit zugrunde?
Neuhaus: Jährlich gehen tausende junge Menschenleben zugrunde, nur weil in der Stunde der Not, keine helfende Hand sich ihnen entgegenstreckt:
"Wir dürfen diese armen Menschen nicht verurteilen - wir müssen ihnen helfen." – Agnes Neuhaus
*Anmerkungen des Autors:
Das Interview wurde nicht tatsächlich geführt. Die Antworten von Agnes Neuhaus wurden mittels leicht angepasster Zitate aus den folgenden Quellen arrangiert: (1) Neuhaus, Agnes: Aus der Geschichte des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder, Dortmund 1929. (2) Domkapitular Prälat Lenné: Agnes Neuhaus/Die Gründerin des Katholischen Fürsorgevereins. In: Zentrale des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder (Hrsg.): Katholische Fürsorgearbeit. Im 50. Jahre des Werkes von Frau Agnes Neuhaus, Dortmund 1950, S.177-188. (3) Hopmann, Sr. Maria Victoria: Agnes Neuhaus. Leben und Werk, Salzkotten 1977.
Über Agnes Neuhaus:
Für Agnes Neuhaus war wichtig, die Arbeit auf professionelle Füße zu stellen. Schulen, aus denen die heutigen Berufskollegs und Fachhochschulen hervorgegangen sind, waren ein elementarer Entwicklungsschritt für die gesamte Wohlfahrtspflege. Darüber hinaus muss das politische Engagement Agnes Neuhaus gewürdigt werden; immerhin war sie eine der ersten Frauen im Deutschen Reichstag 1919. Es war Agnes Neuhaus ein besonderes Anliegen, nicht nur ein paar Frauen zu helfen, sondern nachhaltige Strukturen zu entwickeln. Somit war sie u. a. eine der entscheidenden Gestalterinnen des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, dessen Grundlagen unser heutiges Kinder- und Jugendhilfegesetz noch immer prägen.
Vor über 120 Jahren gründete Agnes Neuhaus den Verein vom Guten Hirten und schloss sich schnell mit anderen Frauen im gesamten Land zusammen, um Hilfe für Mädchen und Frauen in Not zu leisten. Bis heute hat sich die Arbeit des Fachverbands im Deutschen Caritasverband stets weiterentwickelt. Gab es 1929 415 Ortsgruppen und 4.300 Mitglieder so kümmern sich heute 10.000 Mitglieder sowie 9.000 ehrenamtliche und 7.500 hauptamtliche Mitarbeitende in 138 Ortsvereinen um Menschen in Not. In den letzten 20 Jahren gibt es eine Tendenz zu Fusionen von Ortsvereinen. Daher verringert sich die Zahl der Ortsvereine, während die Zahl der Mitarbeitenden, Dienste und Einrichtungen weiterhin wächst.
Neben der Erweiterung der Arbeitsfelder hat sich auch der Vereinsname mehrere Male geändert. Aus dem Verein vom Guten Hirten wurde 1902 der Katholische Fürsorgeverein für Mädchen und Frauen. Ein Jahr später kam es zur erneuten Umbenennung in Katholischer Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder. 1968 erhielt der Verein schließlich seine heutige Bezeichnung als Sozialdienst katholischer Frauen (SkF).
Die Entwicklung des Vereins seit über 120 Jahren
1899
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Inoffizielle Gründung des Vereins vom Guten Hirten durch Agnes Neuhaus (1854-1944)
- Offizielle Verbandsgründung am 19. Juni durch Agnes Neuhaus
- Gründung der Vereine vom Guten Hirten in Köln und Aachen am 8. Dezember
- Änderung des Verbandsnamens in Katholischer Fürsorgeverein für Mädchen und Frauen
- Erneute Namensänderung in Katholischer Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder. Gleichzeitig Treffen der Vorsitzenden der bestehenden Vereine zu einem ersten Vereinstag, Konstitution als Verband (als loser Zusammenschluss) mit Zentrale in Dortmund
- Erste Generalversammlung in Dortmund
- Zweite Generalversammlung in Düsseldorf, Annahme der Satzungen für die Ortsgruppen und den Gesamtverein, damit Konstitution des Gesamtvereins.
- Gründung der Fürsorgerinnenschule in Dortmund, des heutigen Anna-Zillken-Berufskolleg, durch Agnes Neuhaus.
- Agnes Neuhaus' Wahl in die Nationalversammlung und später in den Reichstag. Wesentliche Einflussnahme von Agnes Neuhaus auf das 1922 verabschiedete Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG).
- Massive Einschränkung der Arbeit und Verfolgung durch die NS-Behörden, Verbot der Adoptionsvermittlung (1939).
- Tod von Agnes Neuhaus
- Namensänderung in Sozialdienst katholischer Frauen (SkF)
- Verabschiedung neuer Satzungen für Ortsvereine und Gesamtverein
- 100jähriges Jubiläum des Gesamtvereins
- Verabschiedung neuer Satzungen für Ortsvereine und Gesamtverein.
- 120 Jahre SkF
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