Zurück aus der Zukunft: Caritas anno 2047
Liebe Freund:innen der Caritas,
herzlich danke ich für die Einladung, beim Jubiläumskongress zum 150. Geburtstag der Caritas im Jahre 2047 zu sprechen. Nach der Bundespräsidentin, die heute Morgen, und dem Sprecher der youngcaritas Europa, der zum Midday-Break gesprochen hat, haben Sie mir die ehrenvolle Aufgabe der Pre-Dinner-Speech (P-D-S) übertragen. Seit Nancy Pelosi mit ihrer grandiosen Rede zum Abschied von Präsident Biden 2025 dieses Format geprägt hat, sind die Maßstäbe einer guten P-D-S vorgegeben.
"Zukunft ist das Ergebnis der Entscheidungen von heute", sagte Pelosi. "Zukunft ist das, was wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen." Mit begeisternder Leichtigkeit gelang es ihr, den Bogen der Geschichte von George Washington bis zu Kamala Harris zu schlagen.
Auch ich werde den Blick in die Geschichte richten. Wie alles begann und wie sich alles änderte. Dabei inspiriert mich, was Caritas-Präsident Georg Hüssler zur "Halbzeit", zum 75. Geburtstag des Verbandes, geschrieben hat: "Der Deutsche Caritasverband, immer wieder herausgefordert in den Krisenzeiten unseres Landes – in den Leiden der Kriege, der Hungersnot, Inflation und Arbeitslosigkeit, … (ist) auch heute nicht schlechthin selbstverständlich: er bleibt ein Wagnis."
Die ersten 125 Jahre der Verbandsgeschichte kann ich voraussetzen. Die großartige Jubiläumsdokumentation, die anlässlich des 125. Geburtstags 2022 vom damaligen Zweiten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, ist im Digitalarchiv des Verbandes verfügbar und in den letzten drei Wochen 10.000-mal im CariWeb getoucht worden. Ich weiß, dass etliche regionale Caritasfreund:innenkreise den Film im Rahmen von CariFair-Abenden gemeinsam geschaut und Future-History-Sessions dazu veranstaltet haben. Im CariWeb sind die Dialogfeatures dazu intensiv genutzt worden. Und Porträts von Lorenz Werthmann und Agnes Neuhaus rückten unter die Top Ten der CariVisionsliste.
Aufrüttelnde Krisen
Ich kann mich also auf die Jahre 2022 bis 2047 konzentrieren, in denen kumulierende Krisen den Caritasverband herausgefordert haben, in denen tektonische Beben unsere Gesellschaft, unsere Kirche und unseren Verband erschütterten. Fünf Ereignisse waren, so scheint es mir, besonders einschneidend:
1. die Sars-Cov-22- Pandemie,
2. der als Long-Gaza-Krieg in die Geschichtsbücher eingegangene erste Cyberkrieg,
3. die Dürresommer 2022, 2024, 2025 und 2026 mit den Bundesverfassungsgerichtsurteilen zu Klimaschutz und Generationengerechtigkeit,
4. die von Papst Franziskus einberufene Bischofssynode 2023 mit der sogenannten "franziskanischen Bestätigung" der "decisioni maggiori" des vorausgehenden Synodalen Wegs,
5. die Wahl von Melinda Gates zur UN-Generalsekretärin.
Ich will diese Daten nur kurz in Erinnerung rufen. Sie alle wissen, wie sehr sie innerhalb weniger Jahre die Weltordnung verändert, die Lebenssituation in Deutschland und Europa geprägt und die Lage der Kirche beherrscht haben. Die Sars-Cov-22- Pandemie erschütterte die Welt genau in dem Moment, als die Menschen nach zwei erschöpfenden Coronajahren erwarteten, in die Corona-Normalität zurückzukehren. Der sich anschließende Kampf um die teuren knappen Cov-22-Impfstoffe vertiefte die Spaltung der Welt entlang neuer kolonialer Grenzen: Die europäische Pharmabranche hatte sich erfolgreich gegen Lockerungen des Patentrechts gewehrt und außerhalb Europas und der USA war über mehr als drei Jahre nur zweitklassiger Impfstoff in geringen Mengen verfügbar. Menschen flohen aus Zentralafrika, Süd- und Mittelamerika, wo das neue Virus besonders wütete, in die nördlich angrenzenden Regionen, die sich ihrerseits mit aller Macht gegen die Flüchtlinge abschirmten. Ich erinnere mich sehr gut an die Cov-22-Sonderspendenaktion, bei der alle deutschen Hilfswerke gemeinsam die krisenhafte Zuspitzung in Nigeria, Kenia, Kongo und Somalia abwenden konnten.
Der Long-Gaza-Krieg löste etwa zeitgleich einen Flächenbrand rund um das Mittelmeer aus. Er war Ausfluss und Treiber der dritten Digitalisierungswelle, bei der die Datennutzung im Dienst von nationaler Sicherheit und militärischer Abwehr stand. Vulnerable Personengruppen gerieten ins Visier einer umfassenden staatlichen Schutzmechanik. Die Zusammenarbeit mit den Behörden veränderte sich grundsätzlich. Manche Hoffnung auf eine menschenfreundliche Nutzung digitaler Tools im Dienste sozialer Einrichtungen, die sich in den Coronajahren 2020/21 aufgetan hatte, musste begraben werden.
Noch unmittelbarer wurde das Leben in Deutschland durch vier Dürresommer berührt. Nach den als "Klima I, II und III" bekanntgewordenen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts kam es zu einer strikten Rationierung des Wassers. "Das Grundgesetz verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zu verhältnismäßiger Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen", hatte das Gericht schon 2021 im Vorläuferurteil zu den Treibhausgasen formuliert. In dieser Linie setzte es seine Rechtsprechung fort und forderte zuletzt ein Verbot von Fleischindustrie und Fleischverzehr. Ursula von der Leyen setzte in der EU-Kommission den No-Meat-Act durch. Wir haben die Revolten in Polen, den Aus-tritt Spaniens aus der EU und die steigenden Lebensmittelpreise, die der Entscheidung folgten, in lebhafter Erinnerung. Die Caritas stieg damals unter dem Slogan "Eintisch" in die Zusammenarbeit mit Produzierenden alternativer Nahrungsmittel ein. Wenn man überlegt, wie selbstverständlich uns dieser Teil der Armutsarbeit der Caritas heute ist, wundert es fast, dass wir das erst seit 20 Jahren machen. Zusammen mit Caritas Internationalis in Rom konnten wir mit der internationalen "Eintisch"-Kampagne 2040 den von Melinda Gates gestifteten UN-Nachhaltigkeits-Award gewinnen. Unzweifelhaft ein Höhepunkt des zurückliegenden Jahrzehnts Caritas-Geschichte.
Umwälzende Satzungsreform
Die Krisenjahre 2022 bis 2026, an die ich erinnere, waren für den Caritasverband Jahre, in denen er sich in einer heißen Satzungsdebatte befand. Nach dem Ende der Amtszeit von Präsident Peter Neher und im Anschluss an den Prozess "Verbandlich handeln" ging es um die Frage der Stellung des Präsidenten/der Präsidentin im Caritasrat, es ging um die Governance innovativer Digitalisierungsprojekte, um die Steuerungs- und Strukturentwicklungsaufgaben des DCV. Die Debatten fielen zusammen mit der Schlussphase des Synodalen Wegs, mit den Verschneckungen der Kirche im Angesicht der pandemischen Herausforderungen und mit einer nicht abebbenden Kirchenaustrittswelle - gespeist durch die furchtbaren Enthüllungen und das erschreckende Versagen der Verantwortlichen in der "Missbrauchskrise". Dank der integrierenden Tatkraft des damaligen Führungsteams wurde die Satzungsdebatte in der Caritas inmitten der skizzierten zeitgeschichtlichen Beben erfolgreich zu Ende geführt und es wurden wichtige Entscheidungen für den Verband getroffen:
1. Die 2024 verabschiedete neue Satzung beschreibt die Caritas als "offenen Einrichtungsnetzverband". Das stellt das Caritas-Engagement in sozialen Diensten, Einrichtungen und tätigen Kooperationen der Daseinsvorsorge in den Mittelpunkt. Sie zu öffnen und sektorübergreifend zu vernetzen ist zentrale Aufgabe des Caritasverbandes. Zugleich verpflichtet die Satzung die Caritas, die politische Interessenvertretung von Menschen mit Vulnerabilitätserfahrung durch Menschen mit Vulnerabilitätserfahrung zu fördern.
2. Der Verband bekam eine Doppelspitze m/w.
3. Die enge Verzahnung nationaler und internationaler Aufgaben wurde Satzungsauftrag.
4. Von der Deutschen Bischofskonferenz wurden dem Caritasverband die Neuregelung der Grundordnung sowie die federführende Gestaltung des Thomas-Dienstes auf- und übertragen.
Thomas-Dienst stillt den spirituellen Hunger
Wie bei "Eintisch", so ist es auch beim Thomas-Dienst heute kaum noch vorstellbar, dass es Zeiten gab, in denen diese Aufgabe nicht zum Caritasverband gehörte. Tatsächlich waren es aber ein Impulsvortrag von Tomas Halik beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken 2021 und die Antrittsrede von Beate Gilles als Generalsekretärin der Deutschen Bischofskonferenz beim Caritasrat 2/2022, die den Thomas-Dienst im Caritasverband begründeten. Es geht dabei, wie Sie wissen, um die geistliche Begleitung der Suchenden. Neben dem Samariter-Dienst ist der Thomas-Dienst seither zweite Säule der Caritas-Arbeit. Wir nehmen ernst, wie sehr die Menschen im 21. Jahrhundert spirituell verhungern. Wir stoßen die Türen der leeren Kirchen von innen auf. Wir akzeptieren den Zweifel, die Angst, das Irrende und Irrlichternde, die Sehnsucht nach Begleitung.
Wie der Samariter-Dienst hat der Thomas-Dienst eine individuell-konkrete und eine politische Dimension. Der größte politische Erfolg des Thomas-Dienstes war die Korrektur des Bundesverfassungsgerichts-Urteils zur Suizidassistenz durch das Gericht im Jahr 2029. Nachdem die Umsetzung des ersten Suizidassistenz-Urteils (2/2020) die Zahlen der Suizide in Deutschland innerhalb von fünf Jahren um ein Viertel hatte ansteigen lassen, entstand - initiiert durch den Thomas-Dienst - eine politische Bewegung, an deren Ende eine Verfassungsbeschwerde stand. "Das Menschenrecht auf Freiheit setzt das Menschenrecht auf Leben voraus", so der Kernsatz des Urteils von 2029, das der Beschwerde recht gab. Professorin Hille Haker aus Chicago hatte zusammen mit Professor Stephan Rixen aus Bayreuth die Begründung formuliert. Heute ist sie Ehrenpräsidentin desDCV und Vorsitzende der Stiftung Thomas-Dienst. Morgen wird sie den digitalen Hauptworkshop des Kongresses moderieren.
TravelCenter-Hugs als Orte der sozialen Beheimatung
Wie Sie alle wissen, ist die Erneuerung der nationalen Caritasarbeit in den letzten 20 bis 25 Jahren untrennbar verbunden mit den internationalen Beziehungen. Die seit den Pandemien der frühen 20er-Jahre völlig veränderte Mobilitätskultur hat auch unsere (inter)nationale Arbeit verändert. Und daher kann mein Rückblick auf 150 Jahre Caritas nicht enden ohne einen Blick auf die Arbeit der TravelCenter-Hugs. Seit jeher war ihre Arbeit - bis 2025 unter dem Namen "Bahnhofsmission" bekannt - geprägt von ökumenischer Zusammenarbeit einerseits, von einer Kultur sozialer Orte anderseits. Das "Dritte/Soziale-Orte-Konzept" war zu Beginn der 20er-Jahre noch ziemlich neu, als der Vorstand der Bahnhofsmissionen und der Vorstand des Deutschen Caritasverbandes ihren gemeinsamen digitalen Fachtag zu "Testen und Reisen - Bahnhöfe als Orte der Sicherheit und Begegnung" durchführten. Neben den Professor:innen Jutta Allmendinger und Berthold Vogel waren es die Praktiker:innen der Bahnhofsmission und der Malteser-Testzentren, die die programmatische Ausrichtung der Veranstaltung prägten. Am Ende stand der Beschluss, die Testzentren mit den Angeboten der Bahnhofsmission zu verbinden, die jüdischen und muslimischen Träger der Testzentren zur Zusammenarbeit einzuladen und TravelCenter-Hugs zu schaffen - als offene Orte der Begleitung an (Lebens-)Weggabelungen auf Bahnhöfen, AutomaticCar-DriveIns und an den wenigen verbliebenen Flug-Ports. Wie wunderbar, dass sich die Caritasverbände Europas innerhalb weniger Jahre dem Konzept anschlossen und wir seit 2037 über ein flächendeckendes TravelCenter-Hug-Netz in Europa verfügen. Die Ausweitung in Afrika und Asien schreitet voran. Und überall gelingt es, Volunteering im TravelCenter-Hug als Möglichkeitsraum eigener sozialer Beheimatung in einer Welt der Fremdheiten zu entfalten, gesellschaftlichen ZusammenHalt im Zusammen-Haltmachen zu stärken.
Liebe Freund:innen der Caritas, es gäbe noch vieles zu erinnern aus der Geschichte der Caritas. Aber Sie warten auf den festlich gedeckten "Eintisch" und das anschließende künstlerische Abendprogramm. Also komme ich zum Ende. Die Caritas ist nach 150 Jahren so unverzichtbar wie eh und je. Es ist nicht zuletzt ihrer Energie zu verdanken, dass die Rolle der "Wohlfahrtsverbände" - so sagte man vor 25 Jahren -, dass die Aufgaben der sozialen Daseinssorgeverbände, wie wir heute sagen, für den Sozialstaat geschärft wurden.
BAGsoziale Daseinsvorsorge
Die BAGsD, die Nachfolgerin der früheren BAGFW, nimmt ihre Rolle gestärkter Sozialstaats-Partnerschaft selbstbewusst wahr. Eifersucht zwischen den Verbänden zur "richtigen Armutspolitik" oder zur Verteilung öffentlicher Fördergelder gehören der Vergangenheit an. Über den fünfköpfigen nationalen Nachhaltigkeitsrat, in dem die BAGsD einen festen Platz innehat und der sich seit einem Jahrzehnt als das zentrale Beratungsgremium der Bundesregierung etabliert hat, nehmen die Daseinssorgeverbände direkten Einfluss auf alle Kernfragen der sozialen und ökologischen Transformation. Die Neuaufstellung der internationalen Krisen- und Katastrophenhilfe nach dem Long-Gaza-Krieg trägt die Handschrift der Caritas. Und die neu gewonnene Glaubwürdigkeit der christlichen Kirchen hängt wesentlich mit der Gestaltung des Thomas-Dienstes zusammen, wie er von der Caritas geformt worden ist.
"Tuet Gutes allen und suchet gemeinsam Frieden und Gerechtigkeit." Auch für die nächsten 25 Jahre bleibt die Caritas gefordert. Sie (zusammen) zu führen und ihr ein Gesicht zu geben bleibt ein Wagnis. Die interkulturelle Öffnung, der Kampf gegen die Einsamkeit in den CityTowers, die Gestaltung der Automatisierung und die Diskussionen um das "Anständige Grundeinkommen" stehen auf der politischen Tagesordnung.
Ich wünsche dem heute Nachmittag gewählten neuen Leitungs-Duo Gottes Segen und allen Caritäter:innen viel Kraft bei der Bewältigung der skizzierten Herausforderungen. Bleibt gesund und behütet. Bleibt Caritas.
Anmerkung
Ich bedanke mich bei Thomas Harding, dessen Roman "Future History 2050" die wesentliche Quelle meiner Blicke in die Zukunft bildet; Bischof Georg Bätzing, der in der Schriftenreihe der Deutschen Bischofskonferenz 2020 einen Beitrag über "Corona und die Suche nach der künftig gewesenen Zeit" veröffentlichte; Stanislaw Lem, der mit "Nach mir die Zukunft" in derNZZ 1995 hilfreiche Erkenntnisse zur Futurologie zugänglich machte und bei den Redakteur:innen von malteser.de, die 2021 mit "Unser Leben nach Corona" einen Blick in die Zukunft wagten mit Texten von Matthias Horx und vom Wiener Zukunftsinstitut. Sie zeigen: Zukunft ereignet sich nicht, Zukunft muss gestaltet werden. Daher kann im Jahr 2047 der Rückblick auf 150 Jahre Caritas - "Not sehen und handeln" am Ende auch ganz anders ausfallen.