Dank Neustart mit Ü40: endlich glücklich im Beruf
Vom Kuhstall ins Büro
Eigentlich ist Annette Vossen ausgebildete Tierärztin. Nach dem Abitur studierte sie in München Veterinärmedizin: "Es gibt noch Bilder von mir als Kind, auf denen ich mich als Tierärztin gemalt habe. Das musste ich dann auch machen." Anschließend arbeitete die Akademikerin im Labor, wo sie ihre Doktorarbeit anfertigte. Nach drei Jahren nahm Annette Vossen eine Stelle als Tierärztin in einer Praxis im Nürnberger Land an. Jedoch merkte sie schnell, dass ihr die Praxiserfahrung fehlte: "Es war zu viel Druck und ich wollte nicht als eine Ärztin arbeiten, die sich nicht mit dem auskennt, was sie macht." Deswegen verabschiedete sich die Tierärztin von quiekenden Säuen oder gebrochenen Pfoten im Notdienst und begann in klassischen Bürojobs zu arbeiten: als Telefonberaterin für Pharmariesen, als Ansprechpartnerin beim Jobcenter und zuletzt als Controllerin. Immer in befristeten Arbeitsverhältnissen: "In vielerlei Hinsicht hat mich das gestresst. Aber das Schlimmste waren die Bewerbungen." Denn während der meisten Bewerbungsprozesse wurde sie gefragt: "Warum bewerben Sie sich, Sie sind doch überqualifiziert?"
Wenn alles passt
Auf der Suche nach möglichen Berufsfeldern stieß sie per Zufall auf die Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin: "Ein krisensicherer und spannender Job, weil das Einsatzfeld nachher so breit ist" - bei der ambulanten oder stationären Unterstützung von psychisch kranken oder behinderten Menschen ist man viel unterwegs. Ein Job, der zu Annette Vossen passt: Dieses Gefühl erhielt die Tierärztin schon beim ersten telefonischen Kontakt mit ihrer zukünftigen Ausbildungsstätte, dem Familienentlastungsdienst der Offenen Behindertenarbeit (FED) in Lauf. Auch das anschließende Bewerbungsgespräch verlief anders als gewohnt: "Es gab nur positives Feedback, auch für meine medizinische Erfahrung und mein Alter. Deswegen hat am Ende alles gepasst, dass ich geeignet war." Folglich konnte sie ihren Bürojob kündigen und innerhalb weniger Wochen beim FED anfangen: "Meine zukünftige Chefin hat meine Not gemerkt, dass ich aus meinem alten Job rausmuss".
"Ich bin ihre Arme und Beine"
Die Ausbildung zur staatlich anerkannten Heilerziehungspfleger_in wird von den Bundesländern organisiert, wodurch sich Ausbildungsgehalt und Zugangsvoraussetzungen unterscheiden. Laut dem Berufsbildungsbericht 2020 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung begannen im Jahr 2018/2019 rund 5.421 Menschen eine Ausbildung zur Heilerziehungspfleger_in. Im Vergleich: Fast fünfmal so viele Menschen starteten im selben Jahr eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin (24.108).
Die Hauptaufgabe von Annette Vossen in ihrer Ausbildung ist es, "die Beine und Arme" ihrer Klient_innen zu sein: Im ambulanten Dienst arbeitet sie als Assistenz für Menschen mit Behinderung jeden Alters. Zum Beispiel unterstützt sie bei der Hausarbeit oder bei Arztbesuchen. Seit dem Beginn ihres zweiten Ausbildungsjahrs sammelt Annette Vossen auch Erfahrungen in der stationären Pflege: im Don-Bosco-Haus in Hersbruck. Dort arbeitet sie in einem Langzeitwohnheim für psychisch kranke und behinderte Menschen.
Die Auszubildende muss aber auch wieder die Schulbank drücken. Zu Beginn der Ausbildung hatte sie "etwas Bammel, als ich den Stundenplan gesehen habe. Aber das hat sich dann schnell gelegt." Die 44-Jährige hat den Vorteil, dass sie fünf Jahre Medizin studiert hat und die Grundlagen bereits kennt. Ihre jüngeren Mitschüler_innen bräuchten viel länger beim Lernen: "Die tun mir manchmal schon echt leid."
Bis zur Rente
In ihrem alten Job hat sich Annette Vossen oft gefragt: "Warum mache ich das jetzt alles?" Jetzt bekommt sie für ihre Arbeit direkte Rückmeldung: "Man merkt sofort: Der Klient ist glücklich, freut sich, wenn ich komme. Mir macht die Arbeit einfach Spaß, selbst wenn ich putzen muss, weiß ich, wofür." Im Juli wird Annette Vossen ihre Ausbildung abschließen und möchte bis zu ihrer Rente als Heilerziehungspflegerin arbeiten. Nach über zwanzig Jahren hat sie einen Beruf gefunden, in dem sie sagen kann: "Ich bin glücklich."