Wortlaut des Briefes an die Bundeskanzlerin:
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
der EU-Hotspot Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist weitgehend zerstört, tausende Schutzsuchende sind obdachlos und ohne Versorgung. Es braucht einen konzertierten europäischen Rettungsplan, die sofortige Evakuierung der Flüchtlinge und die Aufnahme der Menschen in Deutschland und anderen europäischen Staaten. Jetzt! Im Lager Moria lebten vor der Katastrophe über zwölftausend Menschen, circa das Fünffache der offiziellen Kapazität. Sie lebten dort seit Monaten, zum Teil seit Jahren, unter erschütternden Bedingungen, zermürbt von der Perspektivlosigkeit. Mit Verbreitung der Corona-Pandemie wurden sie ab Mitte März 2020 völlig isoliert.
Die beschämende Lage in dem Lager und die Brandkatastrophe sind direktes Ergebnis einer verfehlten europäischen Flüchtlingspolitik - jetzt muss die EU den betroffenen Menschen endlich helfen! Deutschland hat aktuell die EU-Ratspräsidentschaft inne. Wir appellieren an Sie und die Bundesregierung, sich in dieser wichtigen Funktion für folgende Maßnahmen einzusetzen und selbst konkrete Schritte einzuleiten:
1. Katastrophenhilfe jetzt!
Um die verzweifelten Schutzsuchenden kurzfristig zu versorgen (Obdach, Essen, medizinische Versorgung etc.), muss der Katastrophenschutz aktiviert werden. Anstatt Schutzsuchende im Umfeld von Moria mit Polizeigewalt unter freiem Himmel festzusetzen, muss die Erstversorgung der Menschen gewährleistet werden. Es ist gut, dass die deutsche Bundesregierung Griechenland ihre Unterstützung angeboten hat. Katastrophenschutzmaßnahmen reichen aber nicht aus.
2. Sofortiger Beginn der Evakuierung!
Die humanitären Zustände in Moria und den anderen Hotspots auf den griechischen Inseln hätten schon vor dem Brand zur Auflösung der Lager führen müssen. Die dramatische Zuspitzung auf Lesbos macht klar: Die Schutzsuchenden von den griechischen Inseln müssen evakuiert werden!
Einer Katastrophe dieses Ausmaßes kann nicht mit Minimallösungen begegnet werden - wie einem Transfer von 400 unbegleiteten Minderjährigen auf das griechische Festland. Es
braucht eine dauerhafte Lösung für alle Betroffenen - und die heißt Aufnahme in anderen europäischen Ländern.
Auf dem griechischen Festland sind bereits tausende Flüchtlinge obdachlos, eine Verlegung der Überlebenden des Brandes auf das griechische Festland ist deswegen auch keine Alternative.
In Deutschland haben sich Bundesländer und hunderte Kommune zur freiwilligen Aufnahme von Geflüchteten bereit erklärt. Diese Bestrebungen dürfen nicht mehr blockiert werden, sie müssen unterstützt und ausgebaut werden. Der Verweis auf eine europäische Lösung darf nicht dazu führen, dass deutsches Handeln verzögert wird.
3. Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik!
Ein "Weiter so" in der europäischen Flüchtlingspolitik kann nach dem Brand von Moria keine Option sein. Die Strategie, Schutzsuchende mit dem Ziel an den Außengrenzen Europas festzuhalten, sie direkt von dort in autoritäre Staaten wie die Türkei zurückzuschicken, obwohl diese ihnen keinen tatsächlichen Schutz bieten, ist gescheitert.
Trotzdem setzen die bisher bekannten Vorschläge für eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auf Asylverfahren und Lager an den europäischen Außengrenzen. Nach dem Brand von Moria kann an diesen Plänen nicht mehr festgehalten werden. Bitte nutzen Sie die deutsche Ratspräsidentschaft, um den notwendigen Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik einzuleiten!
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