„Vielen Dank für alles“
September 2015. Zwei Familien und ihre jeweils drei Kinder aus dem Irak stehen orientierungslos vor einer U-Bahn-Station in der Nähe des Münchener Hauptbahnhofs. Ein prägender Moment für Ursula Saabel. Seitdem hat die pensionierte Lehrerin nicht nur dieser Familie und anderen Geflüchteten in München ehrenamtlich geholfen, sondern auch Razm Ara. Bis heute hat sich zwischen dem jungen Iraner und der Münchenerin eine innige Freundschaft entwickelt.
Ich treffe eine Entscheidung
Auf dem Weg zu einem Konzert in der Musikhochschule in München Anfang September 2015, der mich auch über den Hauptbahnhof führte, wurde ich direkt mit der Masse der Flüchtlinge konfrontiert. An diesem Tag kümmerte ich mich um zwei irakische Familien mit je drei Kindern, darunter einem Baby von neun Monaten. Total hilflos standen sie im Gedränge mit ihren Aufnahmepapieren an einer U-Bahnstation und wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten. Als ich die Rolltreppe betreten hatte, waren sie mir sofort aufgefallen. Ich konnte auch sehen, dass alle, die vor mir auf der Rolltreppe gestanden hatten, an ihnen vorbeigehastet sind - ohne sie zu beachten. Das hat mich empört.
Ich ging auf die kleine Gruppe zu und fragte nach ihrem Problem. Zum Glück sprach der ältere Vater sehr gut Englisch, so dass ich schnell mit ihm in ein Gespräch kam. Beide Familien waren aus Mossul im Irak geflohen und sollten jetzt mit dem Zug zur Zentralaufnahme nach Zirndorf fahren. An diesem Nachmittag ließ ich mein Konzert Konzert sein. Ich erledigte alle Formalitäten für sie und sorgte dafür, dass sie in den richtigen Zug steigen konnten. Aber vorher hatten wir noch unsere Handynummern ausgetauscht, damit wir einander Nachricht geben konnten, ob alles gut gegangen war. Der Kontakt zu diesen Familien ist bis heute nicht abgerissen. Ich habe sie auch mehrfach in ihrer neuen Heimat nahe Nürnberg besucht.
Am Beginn: Deutschunterricht
Als ich nicht lange danach erfuhr, dass in meinem Stadtbezirk der Helferkreis "Miteinander leben in Hadern e.V.” gegründet werden sollte, war ich sofort entschlossen, mich dort zu engagieren.
Im März 2016 wurden in einer Traglufthalle in Großhadern etwa 85 männliche Flüchtlinge, hauptsächlich aus dem Iran, Afghanistan und dem Irak, untergebracht. Sie waren aus verschiedenen Unterkünften in Bayern in unsere Gemeinschaftsunterkunft (GU) verlegt worden. Erstaunlich viele Bürger(innen) aus dem Stadtteil hatten sich als Ehrenamtliche gemeldet. Für mich war von Anfang an klar, dass ich Deutschunterricht geben würde, denn das war mein tägliches Brot als Lehrerin bis zu meiner Pensionierung gewesen.
Bis Mitte 2016 konnten die Geflüchteten nur dann Deutsch lernen, wenn dies in ihren Unterkünften durch Ehrenamtliche ermöglicht wurde. So konnten etwa zehn Kurs-Gruppen gebildet werden. Nach den Sommerferien 2016 gab es auch offizielle, von der Regierung organisierte Kurse, die mit einem Zertifikat endeten. Nun fielen in kurzer Zeit unsere Lerngruppen auseinander, aber wir lösten die Lehrergruppe nicht auf. Wir machten wieder neue Stundenpläne, so dass diejenigen, die Nachhilfe brauchten, immer jemanden aus dem Helferkreis antreffen konnten. Das klappte sehr gut. Und so kam es auch zu näheren Kontakten mit Flüchtlingen, die in anderen Lerngruppen gewesen waren.
Ich lerne Razm Ara kennen
Obwohl ich mich schon seit März in der Unterkunft engagiert hatte, lernte ich erst Mitte September einen jungen Mann aus dem Iran kennen, der immer, wenn ich ihn sah, Tischtennis spielte - und das wirklich gekonnt. Noch nie hatte ich mit ihm - außer "Hallo” - ein Wort gewechselt. Das änderte sich bald. Eines Tages betrat ich den Unterrichtsraum. Keiner aus meiner Kursgruppe war anwesend, aber dieser junge Mann saß da vor einer langen Liste von Verben, die er zu konjugieren versuchte. Nach einer kurzen formlosen Begrüßung bat er mich, ihm zu helfen. Da er zu der Zeit erst wenig Deutsch sprechen konnte, verständigten wir uns auf Englisch. Das klappte ganz prima. Am Ende des zweistündigen Unterrichts, in dem es zeitweilig recht lustig zugegangen war, schrieben wir unsere Namen ans White-Board, und ich wurde gefragt, ob ich ihm weiter helfen wolle. So einigten wir uns auf vier Stunden "Nachhilfe” wöchentlich.
Das Vertrauen wächst
Anfang Oktober erhielt Razm Ara die Aufforderung vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zur ersten Anhörung nach Zirndorf zu kommen, damit sein Asylverfahren beginnen könne. Inzwischen hatte ich ihn schon etwas besser kennen gelernt. Er hatte mir erzählt, weshalb er aus dem Iran geflohen war und dass er als Christ hier in einer evangelischen Gemeinde schon Anschluss gefunden habe. Ich bemerkte, dass ihn die nahe stehende Anhörung sehr belastete und erfuhr von ihm, dass er sich eifrig darauf vorbereitete. Einige Tage vor dem Termin bat er mich, ihn dorthin zu begleiten. Ich sollte einfach nur da sein während der Befragung. Dies war ein großer Vertrauensbeweis, der mich sehr berührte. Und ich sagte zu.
Die Anhörung verlief in ruhiger Atmosphäre. Auf meine Frage an die Protokollantin, ob sie selber das Protokoll bearbeiten würde, wurde uns geantwortet, dass es von einem anderen Sachbearbeiter gemacht werde. Das hat uns sehr verwundert. Nun begann eine an den Nerven nagende und verunsichernde Wartezeit mit täglichen Fragen: "Wie wird mein Bescheid sein: Positiv oder negativ? Wann bekomme ich ihn endlich?” Die Ungeduld wuchs mit jeder Woche. Betroffen war nicht nur Razm Ara, sondern auch ich. Es wurde immer schwieriger, ihn zu beschwichtigen.
Schon seit dem Sommer war im Helferkreis eine kleine Gruppe von Iranern entstanden, die großes Interesse daran hatten, möglichst schnell ihre Deutschkenntnisse zu mehren und auch die deutsche Kultur kennen zu lernen. Deshalb gründete eine meiner Freundinnen ein "Sprachcafé”, das einmal pro Woche in der Unterkunft stattfand. Bald waren dadurch Freundschaften entstanden. Auch Razm Ara schloss sich im Herbst dieser Gruppe an. Wir machten miteinander Ausflüge in die nähere Umgebung, luden zu Besichtigungen ein und führten die Geflüchteten langsam und behutsam an deutsche Gewohnheiten heran. Dadurch konnten sie ihre Deutschkenntnisse sehr verbessern.
Eine feste Freundschaft und noch mehr Vertrauen
Schon seit einigen Wochen war im Herbst 2016 bekannt, dass die GU zugunsten einer neuen Containerunterkunft in einem Nachbarstadtteil aufgelöst werden sollte. Alleine diese Nachricht hatte für Unsicherheit und Beängstigung bei den Bewohnern gesorgt. Sie befürchteten, dass in der neuen Unterkunft wir vom Verein unsere Hilfe beenden würden. Deshalb hatten wir den "Jungs” versichert, dass wir Helfer das in keiner Weise geplant hätten. Es waren inzwischen ja viele Freundschaften entstanden, und die Jungs hatten Vertrauen zu uns bekommen. Ein ganz normaler Vorfall zeigte jedoch wie brüchig dieses Versprechen schien:
Denn heute ist der Teufel los in der Unterkunft. Als ich zum Unterricht komme, werde ich von einer großen Gruppe junger Männer, unter anderem Razm Ara, voller Empörung bedrängt und mit Wortfetzen eingedeckt. Was war passiert? In der neuen Unterkunft mit Zweibettzimmern ist ein Baufehler entdeckt worden, deshalb muss die Gruppe zunächst noch in ein ehemaliges Industriegebäude mit sechs- bis acht-Bettsälen umziehen, da der Securityvertrag zum zunächst vorgesehenen Termin ausläuft. Es soll angeblich nur für eine Übergangszeit von wenigen Wochen nötig sein.
Ein Angestellter des Sozialreferats ist gekommen, um alles zu erklären. Die Vereinsleiterin hat es noch einmal bestätigt. Aber ich höre nur Schreie und wütende Rufe: "Sie lügen! Sie lügen!” Große Aufregung bei den Camp-Bewohnern. Sie sind der festen Meinung, dass Ihnen nicht die Wahrheit gesagt wird, damit keine Unruhe aufkommt. Zu den "Empörten” gehört auch Razm Ara. Seine Freunde haben ihn vorgeschickt. Er stürzt sich auf mich; um ihn herum die Jungs: "Wissen Sie schon?” - "Ja, ich weiß.” - "Sie lügen! Wir sind keine animals!” Dabei zeigt er auf die Leitenden der Unterkunft.
Ich versuche ihm zu erklären wie die Lage ist, und dass die Bewohner keineswegs belogen werden, sondern dass es sich nur um eine vorläufige Notlösung handle. Das dauert eine Weile. Auch mir will er nicht so richtig glauben. Er wendet sich mehrfach an die Freunde und spricht Farsi mit ihnen. Dann kommt wieder ein Einwand. Ich sagte: "Glaubst du, dass ich dich belüge?” Es dauert wieder eine Weile. Dann - zögerlich - schaut er mich an und sagt zaghaft: "Nein!”. Ich reiche ihm meine Hand. Er schlägt ein, dreht sich um zu seinen Freunden und überzeugt sie. Von diesem Tag an ist sein Vertrauen in mich weiter gewachsen, und ich habe noch ein paar Freunde mehr gewonnen.
Eine Einladung mit Folgen
Die Wohnsituation in dem umfunktionierten Industriegebäude war wirklich "nur ein vorläufiges Dach über dem Kopf”. Die Unterkunft war total überfüllt. Inzwischen waren von unterschiedlichen Trägern Deutschkurse angeboten worden. Auch Razm Ara bewarb sich. Bei einem kleinen Deutschtest zeigte sich, dass er für das erste Level-A1 bereits "zu viele” Deutschkenntnisse hatte. Er durfte den ersten Kurs überspringen und begann gleich mit Level-A2. Das machte ihn recht stolz und spornte ihn an, sich noch mehr als bisher anzustrengen.
Doch nun war zuerst Weihnachtszeit. Ich entschloss mich, Razm Ara, drei seiner Freunde und die Freundin vom Sprachcafé zu mir nach Hause zum gemeinsamen Kochen und Essen einzuladen. Auch mein jüngster Sohn und seine Freundin, die Razm Ara schon kannten, waren da. Alle halfen mit. Ich war zunächst entsetzt, welche Mengen Salat und wieviel Bleche Pizza hergestellt wurden. Wer sollte das alles essen? Ich erkundigte mich bei Razm Ara: "Ist es üblich im Iran, viel mehr zuzubereiten als gegessen werden kann?” Ich wurde belehrt: "Bei uns ist es so, dass immer etwas übrig bleiben muss, wenn Gäste da sind. Sonst könnten sie meinen, sie dürften nicht so viel essen wie sie mögen.” Das ist also eine Sitte, die für mich ganz neu war.
Farsi, Englisch, Deutsch und Französisch schwirrten durch die Wohnung. Es wurde ein lebhafter und langer Abend. Weihnachten feierten wir selbstverständlich miteinander. An einem Adventssonntag hatte ich ihm erklärt, was "Advent” bedeutet. Er hatte "meine Stunde” dann bei seinen Freunden wiederholt. Alles auf Deutsch, wie er mir stolz berichtete. Am Heiligen Abend schmückten Razm Ara und ich zusammen den Weihnachtsbaum. Den Baumschmuck bewunderte er und stellte viele Fragen. Immer, wenn er kam, musste der Baum leuchten. Das gefiel ihm sehr. Am Heiligen Abend gingen wir alle nach dem Essen miteinander in die St. Michael Kirche zur Christmette. Der Predigt hörte er ganz besonders aufmerksam zu, denn der Jesuit sprach über die Flüchtlinge, und Razm Ara behauptete, fast alles verstanden zu haben. Das musste ich bald glauben, denn im anschließenden Gespräch stellte sich das als wahr heraus. Da konnte ich nur staunen.
Infolge des Umzugs in die Behelfs-Unterkunft war ernsthaftes Lernen für Razm Ara natürlich kaum mehr möglich. Es war zu unruhig und zu laut. Weder in seinem "Zimmer” mit sieben Mitbewohnern noch in dem einzigen Lern-Raum konnte er ungestört arbeiten. Deshalb hatte ich ihm schon kurz vor Weihnachten angeboten, die Deutschstunden in meine Wohnung zu verlegen, wo wir miteinander intensiver lernen könnten. Natürlich nahm er das Angebot gerne an. Mitte Januar 2017 sagte Razm Ara dann seiner Mutter bei einem Anruf, der in meiner Wohnung stattfand, er habe jetzt zwei Zuhause und zwei Mütter. Und wenig später antwortete er, als ich ihn in der Stadt traf: "Und wohin gehst du jetzt?” "Nach Hause.” Ich dachte, er spräche vom Camp. Aber er meinte, zu mir.
Gedämpfte Hoffnung und ein harter Lehrgang durch die Behördenwelt
Es war im Frühjahr 2017, als der Postbote mir einen ganz speziell verpackten großen Brief brachte und um eine Unterschrift bat. Der Brief kam aus dem Iran. Inhalt: Razm Aras gesamte Ausbildungsdokumente vom Abitur bis zum Bachelorzertifikat. Er hatte mich gefragt, ob er die Dokumente an mich schicken lassen dürfe. Natürlich durfte er. Etwa zur gleichen Zeit erhielt er endlich seinen Bescheid vom BAMF. Das tägliche Warten hatte ein Ende, aber der Bescheid war leider negativ. Für kurze Zeit war jeglicher Ansporn verschwunden. Razm Ara war wie gelähmt. "Alles war umsonst”, meinte er. Ihm Mut zu machen war Schwerstarbeit. Er hatte ständig Einwände. Sobald ich einen Satz mit "Ja, aber...” begann, fiel er mir ins Wort und beklagte sich: "Die Deutschen kennen nur ‚ja, aber…‛ und müssen immer die Regeln beachten. Wo gibt es Ergebnisse!?” Von dieser Zeit an versuchte ich, jedes "ja. aber...” zu vermeiden, was natürlich nicht immer erfolgreich war.
Ich fand die Begründung für die Ablehnung auch ungerecht und gewollt. Das Schreiben bestand hauptsächlich aus Textbausteinen, die viel zu allgemein waren und die individuelle Situation des Angehörten in keiner Weise berücksichtigte. Deshalb half ich Razm Ara Ende März 2017 beim Verwaltungsgericht gegen den Bescheid zu klagen. Wieder begann eine zermürbende Zeit. Warten und Fragen stellen: "Wann bekomme ich einen Termin beim Gericht?” Und: "Der Rechtsanwalt ist schlecht. Er tut gar nichts für mich!” Ich riet zur Geduld, verwies auf unser Rechtssystem und den Behördenablauf. Er hatte jedoch keine Einsicht und war oft wütend. Das Wort "Geduld” musste ich aus meinem Wortschatz streichen.
Mit zunehmender Vertrautheit, hatte Razm Ara mir erzählt, dass er die Universität in Esfahan besucht und dort ein Studium der Metallurgie mit einem Bachelor absolviert hatte. Nun hätte er, wenn möglich, noch gern ein Masterstudium aufgenommen. Das zu organisieren wäre für ihn alleine natürlich nicht möglich gewesen. Trotzdem ging er regelmäßig in seine Sprachkurse. Während er jedoch kaum aus seiner Apathie herauskam, recherchierte ich, ob für Flüchtlinge die Anerkennung ihrer Studiendokumente möglich sei. Und siehe da: Ich stieß auf einen Hinweis des Bundesministerium für Bildung und Forschung, der da lautete: "Unabhängig von Zuwanderungsstatus und Staatsangehörigkeit können Asylbewerber einen Antrag auf Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikationen stellen.” Und: "Die Anerkennung ist in den wichtigsten Herkunftssprachen der Flüchtlinge erhältlich.”
Das spornte mich an, alle Möglichkeiten nun auszuschöpfen. Mir war natürlich bewusst, was dieser Weg auch für mich bedeuten würde. Aber nun konnte ich nicht mehr zurück. Da ich hauptsächlich Schulabgänger der neunten und zehnten Klasse unterrichtet hatte, kannte ich mich mit Jobcentern, Arbeitssuche und Bewerbungen aus. Mir war auch klar, dass meine Kenntnisse in diesem Falle nur eine kleine Hilfe sein konnten. Mittlerweile hatte ich Razm Ara - auch in Absprache mit meinen Söhnen - angeboten, das "Arbeitszimmer” zu beziehen. Somit konnte er sich dort jederzeit aufhalten und seine Zeit zum Lernen noch besser nutzen. Von nun an bildeten wir beide eine "Wohngemeinschaft”, was für mich ganz neu war und für ihn eine sehr erfreuliche Verbesserung seiner Situation. Auch erleichterte diese Veränderung alle "Integrationsmaßnahmen” erheblich. Da Razm Ara und ich als sogenannte "Tandempartner” im Helferkreis registriert waren, konnte diese Vereinbarung erfolgen. Dennoch behielt er sein "Bett” in der GU. Auch seine offizielle Adresse ist dort.
Auf dem Weg zur Hochschulberechtigung
Vorausgeschickt sei, dass Freundlichkeit und Hilfe bei allen Behörden, die beteiligt waren, ob in München oder außerhalb, überaus groß waren. Das war natürlich auch hilfreich und ermutigte Razm Ara und mich. Es waren eine Reihe von Behörden, die aufgesucht werden mussten: In der "Münchener Beratungsstelle für die Anerkennung ausländischer Qualifikationen” wurden Razm Aras Dokumente registriert und geprüft sowie die Berechtigung der Anerkennung erlassen. Bei der Agentur für Arbeit musste der Antrag für die Kosten der Übersetzungen von Farsi ins Deutsche beantragt werden. Dann folgte eine mühselige Suche nach einem beeidigten Übersetzer. Wir erhielten viele Absagen. Grund: "Überlastung durch Dolmetschen bei Gericht.” Aber schlussendlich hatten wir doch Glück. Endlich war es dann Ende Juli 2018 möglich, alle Studiendokumente für das Anerkennungsverfahren einzureichen. Bei aller Freude, dass so viel geschafft worden war, wartete Razm Ara jedoch voller Zweifel auf das Resultat.
Mittlerweile hatte Razm Ara auch den B1-Kurs besucht und erfolgreich abgeschlossen. Das machte ihn stolz und spornte ihn weiter an. Im Eifer des Erfolges meldete er sich sofort für den B2-Kurs an, der erheblich schwieriger war. Wir verbrachten viel Zeit mit Erklären, Üben und Wiederholen des Lernstoffs. Leider wurde diese erfolgreiche Zeitspanne erheblich gestört vom Termin für die Anhörung im Verwaltungsgericht. Anfang März 2018 traf die Aufforderung dazu bei Razm Ara ein. Wieder war Hochspannung in der Luft. Abermals geriet sein labiles Gleichgewicht erheblich ins Schwanken. Akribisch bereitete er sich dennoch auf den Termin vor. Der Deutschkurs war augenblicklich nur Nebensache. Dann, einige Tage vor der Anhörung, ein Anruf des Rechtsanwalts: Die Anhörung müsse wegen Krankheit der Richterin auf einen anderen Termin verlegt werden. Wieder warten. Das hatte ein Ende in den ersten Tagen des Mai. Der Ersatztermin wurde bekannt gegeben. Wieder begleitete ich Razm Ara zur Anhörung. Die Befragung war eine Tortour. Die Richterin dehnte die Zeit weit über die vorgesehene Dauer aus. Sie wirkte sehr einschüchternd. Razm Ara blieb keine Antwort schuldig. Er antwortete sehr konzentriert. Aber es fehlte jegliche freundliche oder ermunternde Geste Razm Ara gegenüber. Auf dem Heimweg war er nahe dran, in Tränen auszubrechen.
Damit hatte eine neue Phase, geduldig zu warten, begonnen. Diese wurde aber durch ein positives Ereignis im August unterbrochen: Nach nur drei Wochen sind Razm Aras Dokumente, es sind 14 Zertifikate, bei der Anerkennungsstelle "uniassist” in Berlin bewertet worden. Er erhält eine "Hochschulzugangsberechtigung für alle Technischen Hochschularten mit der Durchschnittsnote 2,5”. Eigentlich müsste Razm Ara jetzt in die Luft springen. Aber er kann es noch nicht glauben, was da auf dem Papier steht. Ganz langsam begreift er, dass er vielleicht noch eine Chance hat. Ohne lange zu zögern, gehen wir auf Informations-Tour, um nach Möglichkeiten für weitere berufliche Perspektiven zu suchen. Dabei steht Deutschlernen immer im Focus, begleitet von Gesprächen in den Beratungszentren der Uni und der Hochschulen sowie der Handelskammer und Firmen im Metallgewerbe. Ende April machte er die Prüfung im C1-Kurs. Ob er das Ergebnis schon bekommen hat? Nein, auch dieses Mal muss er noch warten. Denn das Zertifikat ist eine Bedingung, sich immatrikulieren zu dürfen.
Das hat uns gerade noch gefehlt: Ein unerwartetes Ärgernis
Im Frühling sind Ungeduld, Ärger und Frust auf dem Höhepunkt: Noch immer fehlt der Bescheid vom Verwaltungsgericht. Das Jahr seit der Anhörung ist fast voll. Mein Schützling zeigt seine Unzufriedenheit ständig. Er meint, ich würde mich nicht genügend bemühen, und natürlich kümmere der Rechtsanwalt sich auch um nichts. Ich sage ihm, dass meine Anrufe oder Mails stets das gleiche Ergebnis brächten. Die Sekretärin: "Wenn wir Bescheid vom Gericht bekommen, benachrichtigen wir Herrn Razm sofort." Das hält er für Ausreden.
Nun aber kommt Ende Januar 2019 ein Anruf von der Kanzlei mit der Nachricht, dass die Richterin wegen Überarbeitung die Frist für Razm Aras Bescheid nicht hat einhalten können, deshalb gebe es zwei Möglichkeiten: Nr.1: Die Anhörung vom Mai 2018 werde akzeptiert. Nr.2: Die Anhörung könne wiederholt werden. Der Rechtsanwalt bietet ihm ein Gespräch an. Spontan lehnt Razm Ara eine Wiederholung beim Gedanken an die erste Anhörung konsequent ab. Wir reden miteinander und loten die Chancen aus. Schließlich entscheidet er sich für die Wiederholung. Die Richterin wird die gleiche sein. Erstaunlicherweise verläuft diese Befragung besser, beinahe in einer freundlichen Atmosphäre. Aber wieder muss Razm Ara warten. Das Stress-Thermometer steigt von Tag zu Tag an.
Gott sei Dank - das Leben besteht nicht nur aus "Arbeit”
Natürlich ist Integration nicht getan mit all den Deutschkursen, Behördengängen und Informationsaktivitäten. Das ist gewiss alles sehr nötig, aber ebenso wichtig ist das, was wir miteinander erlebt haben, wie wir unsere Freizeit gestalten und was uns auch aneinander gebunden hat.
Bald nachdem Razm Ara die meiste Zeit bei mir zu Hause verbrachte, erzählte er, dass er bereits als Schüler sich mit Huckleberry Finn verglichen und seine Abenteuer auf Farsi gelesen habe. Das Buch meiner Kinder war noch vorhanden, und Razm Ara beschloss, mir jeden Tag ein paar Seiten vorzulesen. Wochenlang war fast jeden Abend "Lesestunde”. Das hat uns viel Spaß gemacht. Manches musste erklärt werden, aber dadurch konnte er einen großen Sprung vorwärts in seinen Deutschkenntnissen machen. Nun begann er auch täglich die Zeitung zu lesen. Zunächst beschäftigte er sich mit dem Wetterbericht, nicht nur mit dem kurzen vorne auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung. Nein, er studierte den ausführlichen, der alle bayerischen Regionen berücksichtigte und dazu noch das Biowetter. So eignete er sich das ganze Vokabular in kurzer Zeit an. Alles, was neu war, notierte er sich auf bunten Post-it-Zetteln - immer mit einem Beispielsatz und klebte sie auf die Wand vor seinem Schreibtisch. Ganz besonders liebt er Redensarten und Sprichwörter, auch die wurden auf Zettel notiert. Täglich wuchs der Wortschatz inklusive Anwendung. Morgens galt seine erste Aufmerksamkeit dieser Wand. Er las sich die Notizen auf einer der Längszeilen mehrfach laut vor und prägte sich so die Sätze ein. Inzwischen ist die Wand voll. Post-it-Notizen werden immer noch beschrieben, aber sie an die Wand zu kleben, ist inzwischen nicht mehr nötig.
Wenn meine 11-jährige Enkelin zu Besuch ist, bittet Razm Ara sie manchmal, ihm beim Lernen zu helfen. Das macht sie gerne und sehr ernsthaft. Neulich bat er sie, mit bestimmten Begriffen Sätze zu formulieren, damit er sie wiederholen und aufschreiben könne. Lisa erfüllte ihre Aufgabe genau. Auf einmal hörte ich wie sie zu Razm Ara sagte: "Das klingt aber nicht nach mir.” Er hatte einen Fehler gemacht. Die Antwort hat ihm so sehr gefallen, dass er den Satz in seinen Wortschatz aufgenommen hat.
Razm lernt Fahrradfahren und Schwimmen
Schon kurz, nachdem wir uns kennen gelernt hatten, stellte er fest, dass ich immer auf dem Fahrrad unterwegs war. Diese Art der Fortbewegung kannte er selbstverständlich, aber sie war, vor allem für Frauen, in seiner Heimat nicht üblich. Er hatte auch kein Rad besessen. Das änderte sich bald. Unser Verein hatte eine Radwerkstatt eröffnet, und es waren viele Räder geschenkt worden, die von den jungen Männern selbst mit Hilfe von Mitgliedern des Helferkreises wieder fahrtüchtig gemacht worden waren. Wer mit einem Rad fahren wollte, konnte es zunächst nach Rücklage von 20 Euro leihen. Diese Gelegenheit nahmen viele in Anspruch. Als die GU aufgelöst wurde, konnten die Räder für 20 Euro gekauft werden. So kam auch Razm Ara zu seinem Rad. Zunächst begann ich mit kurzen Fahrten in den nahen Wald und die leicht erreichbare Blutenburg, ein kleines Schlösschen in entzückender Umgebung. Als sich Razm Aras Kondition besserte, erweiterte ich die Fahrten. Des Öfteren kamen auch Freunde mit, die ebenfalls gerne die nähere Umgebung kennenlernen wollten und sich über die Abwechslung freuten.
Bei unserer ersten Fahrradtour an den Starnberger See erfuhr ich, dass Razm Ara nicht schwimmen konnte. Das war natürlich ein Grund, ihm das Schwimmen im See zu untersagen. Im Jahr 2017 waren nämlich schon einige Flüchtlinge in verschiedenen Seen und Bädern in Bayern ertrunken. Da wollte ich kein Risiko eingehen. Schließlich akzeptierte er meine Einwände. Ich selbst bin eine leidenschaftliche Schwimmerin, auch heute noch. Da ich am Wasser aufgewachsen bin, mussten meine Geschwister und ich bereits vor dem Schulalter schwimmen können. Mein Vater hat es uns allen beigebracht. Er meinte: "Schwimmen können ist eure Lebensversicherung.” Das habe ich verinnerlicht. So kam es, dass ich Razm Ara einen Schwimmkurs schenkte. In kürzester Zeit lernte er, sich über Wasser zu halten und bekam viel Lob von der Kursleiterin. Nun kann er, wenn er möchte, auch im See schwimmen. Leider schwimmt er nicht so gerne wie ich. Er geht lieber ins Fitness-Center oder joggt.
Im letzten Sommer haben wir beide schon sehr große Rad-Touren gemacht. Zunächst machten wir eine große Fahrt entlang der Isar. Das waren immerhin schon mehr als 30 Kilometer. Im Herbst habe ich es dann gewagt, mit ihm rund um den Starnberger See zu radeln von München aus und wieder zurück. Das war eine große Herausforderung, die er jedoch souverän gemeistert hat. Inzwischen fährt er sehr gerne Rad. Selbst weite Wege schrecken ihn nicht. So hat er auch die Stadt sehr gut kennengelernt. Nur noch selten benutzt er die öffentlichen Verkehrsmittel.
Schon kurz nachdem Razm Ara nach München gekommen war, beteiligte er sich an dem Projekt "Ein Teller Heimat”. Einmal im Monat kochen Geflüchtete für andere Geflüchtete und eingeladene Gäste. Die Planung und Ausführung liegt bei den Jungs. Freiwillige Helfer sind immer gern gesehen. Diese Abende sind sehr lebhaft und gesellig. Dort werden auch viele Kontakte geknüpft, gute Gespräche geführt und neue Freundschaften geschlossen. Razm Ara ist nach drei Jahren noch immer dabei. Er ist sehr hilfsbereit, ist gerne in Gesellschaft und kann inzwischen gut auf Menschen zugehen. Früher war das nicht so. Als ich ihn kennen lernte, hatte er wenig Selbstbewusstsein und kaum Selbstvertrauen, sobald Fremde um ihn herum waren, zog er sich meistens ganz scheu zurück. Zu meiner Freude ist er aufgeblüht. Schon seit dem vorigen Jahr traut er sich allerhand zu. Er begleitet Freunde zu den Behörden, dolmetscht für sie bei Arztbesuchen oder verfasst ihnen Texte für Bewerbungen, die er allerdings nach Rückversicherung bei mir auf Korrektheit abschickt. So kommt es auch in letzter Zeit öfter vor, dass er mit Hausbewohnern ins Gespräch kommt und sich sehr selbstbewusst mit ihnen unterhält.
Ich unterstütze Razm immer noch
Trotz seiner Selbstständigkeit ist er immer noch auf meine Hilfe angewiesen. Deutsch lernen ist eben ein langer Prozess. So ist eine immer wieder gestellte Frage: "Hast du Zeit?". Meistens bejahe ich. Aber vor einiger Zeit antwortete ich: "Tut mir leid. Heute nicht.” Razm Ara war ganz erstaunt: "Warum nicht? Was hast du vor?” Ich: "Ich gehe heute mit meiner Freundin ins Kino. Ich habe auch noch ein eigenes Leben.” Es entstand eine kurze Pause, dann meinte er ganz treuherzig: "Aber du hast doch schon so lange gelebt.” Ich habe Tränen gelacht.
2017 machte Razm Ara mich über Skype mit seinen Eltern bekannt. Seitdem muss ich mich regelmäßig zeigen und ein paar Worte mit ihnen sprechen und einige Fragen beantworten. Dass ich mich um ihren Sohn kümmere und ihm helfe, beruhigt sie sehr. Zum Dank erhielt ich letztes Jahr ein großes Paket mit wunderbaren iranischen Trockenfrüchten. Daraufhin schrieb ich einen Dankesbrief, den Razm Ara am Telefon übersetzen musste, in dem ich von seinem Fleiß und seiner Dankbarkeit schrieb. Außerdem erwähnte ich, dass er manchmal im Stress wie ein "Vulkan” reagiere. Auf meinen Satz "Aber das kennen Sie ja sicher”, antwortete die Mutter im nächsten Brief: "Ja, aber er hat ein gutes Herz.” Dem muss ich uneingeschränkt zustimmen.
Der Blick in die Zukunft
Die letzten Wochen, bevor ich diese Zeilen schreibe, waren sehr anstrengend und wenig erfreulich. Das lag nicht an Rasm Ara, sondern an der immer noch ungeklärten Situation seines Status und seiner Zukunft: Der neue Bescheid vom Verwaltungsgericht lässt wieder auf sich warten. Dadurch wurde ihm auch ein Praktikumsplatz, der eigentlich schon sicher für ihn war, wegen seines unsicheren Status abgesagt. "Welche Chancen bleiben mir dann noch bei der ständigen Beschneidung des Asylrechts, fragt Razm Ara. "Kann ich bleiben? Muss ich fort?" Fragen über Fragen und keine glaubhaften Antworten. Damit werde ich Tag für Tag konfrontiert. Meine Hilflosigkeit ist mit Händen zu greifen. Was soll ich noch sagen? Was ich vorbringe, ist eigentlich völlig wertlos. Alles verpufft im Nichts. Das Stress-Barometer steigt von Tag zu Tag. Razm Ara beginnt, alles schlecht zu reden. Ich versuche zu widersprechen, aber ich weiß, dass meine Argumente nicht überzeugen können. Ich zähle in meiner Not alles auf, was wir in unserem Netzwerk gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung unternommen haben. Wie viele Briefe ich geschrieben habe. An wie vielen Demos ich teilgenommen habe. Doch was soll das noch bewirken?
Er tat mir Leid. Ich versuchte, mich in seine Lage zu versetzen, was natürlich nicht annähernd möglich war. Murrend und schlecht gelaunt verließ er die Wohnung und verbrachte ein paar Tage in der GU. Das war vorletzte Woche. Inzwischen ist einiges geschehen: Die Bundesregierung beschließt das Fachkräftezuwanderungsgesetz. Die Befürworter des Spurwechsels haben sich durchgesetzt. Die Anerkennungsstelle uniassist schickt Razam Ara sein Hochschulberechtigungszertifikat. Er kann sich damit jetzt bei der Technischen Hochschule Ingolstadt für sein Studium in "Werkstofftechnik” bewerben - unabhängig von seinem Status. Sein Deutsch-Zertifikat kann nachgereicht werden.
Als er zurückkommt, berichte ich ihm, was sich während seiner Abwesenheit geändert hat. Noch zweifelt er. Nachdem ich ihm alles gezeigt und erklärt habe, ist er überzeugt und ich sehe, dass er sich auch freut. Ich atme ein bisschen auf und hoffe, dass er seinen wunderbaren Humor, der uns auch verbindet, wieder gewinnt. Er fasst meine beiden Schultern und drückt auf jede einen leichten Kuss. Dann umarmt er mich und sagt wie so oft: "Danke für alles, Mutti.”
Und das zum Schluss: Versuch eines Résumés
Nun engagiere ich mich bereits etwas mehr als drei Jahre in der Flüchtlingshilfe und ich finde es nach wie vor spannend, aber auch anstrengend. Die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und vor allem auch die der Landesregierung in Bayern ist restriktiv und menschenrechtlich mindestens zweifelhaft, wenn nicht gar dumm. Das müssen die Geflüchteten und alle, die sich um diese Menschen kümmern, ausbaden.
Auch wenn die Situationen, die ich kennengelernt habe, ziemlich aussichtslos schienen, habe ich nie vorzeitig aufgegeben. Und jedes Mal hat es sich gelohnt. Irgendwie ging es weiter. Mehrfach dachte ich daran aufzuhören, aber immer wusste ich, dass dieser Zeitpunkt vorbei war. Einem hilflosen Menschen wie Razm Ara die nötige Unterstützung zu entziehen, wäre für mich unmöglich. Ich hatte einen Menschen kennen gelernt, der mir ans Herz gewachsen war. Und das ist für beide Seiten ein Gewinn. Eigentlich wollte ich ja nur Deutschunterricht geben. Mein Ratschlag: Engagieren Sie sich auch! Sie werden es nicht bereuen!