Caritas warb für besondere Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für Kinder aus suchtbelasteten Familien
Dillingen/Augsburg, 06.07.2019 (pca). 2,65 Millionen Kinder in Deutschland leben in suchtbelasteten Familien. 40.000 bis 60.000 Kinder in Familien, deren Eltern illegale Drogen nehmen. Ihr Leben läuft alles andere als kindgerecht ab. Den Kindern ist durch die Sucht eine stabile und gesunde emotionale Entwicklung verwehrt und sie haben ein sechsfach höheres Risiko, später im Leben selbst suchtkrank zu werden. Da sie kaum wahrgenommen werden und kaum eigene Hilfsangebote erhalten, gelten sie als die "vergessenen Kinder". Die Suchtfachambulanz der Caritas hat seit 2017 ein eigenes Projekt für diese "Kinder aus suchtbelasteten Familien" - kurz kiasu genannt. Es wird von der AOK gefördert. Bis dato profitieren gerade mal fünf Kinder im Alter von acht bis elf Jahren davon. "Wir gehen aber davon aus, dass es bei uns im Landkreis Dillingen rund 150 Kinder sind, die in suchtbelasteten Familien leben", sagt Sabine Schmidt. Sie leitet die Suchtfachambulanz der Caritas in der Donau-Stadt.
Sie hatte nun mit ihrem Team zu einem Fachtag eingeladen. Ihr Ziel: SozialpädagogInnen, PsychologInnen und Erzieherinnen, die in ihren verschiedenen Funktionen mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, auf diese Kinder aufmerksam zu machen. "Wir sind ihnen das nämlich schuldig", betonte Barbara Habermann. Sie leitet das Referat Sucht und Psychiatrie des Diözesan-Caritasverbandes und hat das Projekt kiasu bereits 2009 in Augsburg angestoßen und aufgebaut.
Angst, Unsicherheit, mangelnde Zuwendung, keine Geborgenheit, Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch, Gewalt, Instabilität, Unkontrollierbarkeit, Unberechenbarkeit, Verlusterlebnisse prägen das Leben dieser Kinder. "Sie sind ständig in einer Habachtstellung. Sie fühlen sich als ungewolltes Kind. Sie wissen nie, was auf sie zukommt", so Habermann. Schon Kindergartenkinder würden sich damit ständig mit der Sorge beschäftigen, was zuhause denn gerade passiere oder ob die Mama schon wieder betrunken auf der Couch liege, wenn es nach Hause kommt. "Diese ständige Habachtstellung, das macht etwas mit dem Kind. Das ist furchtbar." Ihre Eltern hingegen, würden meinen, dass die Kinder ihre Sucht nicht mitbekommen würden. "Doch das stimmt nicht. Sie wissen vielleicht nicht, warum sich ihre Mutter oder ihr Vater so verhalten, aber sie wissen, dass etwas nicht stimmt", unterstrich Habermann.
Ein Erkennungsmerkmal, wie es um das Kind bestellt sei, das ist die Art seiner Bindung zu den Eltern. "Jedes Kind brauche von den ersten Lebenstagen an Zuwendung und Aufmerksamkeit. Dadurch entsteht eine emotionale Bindung, die für das emotionale Überleben des Kindes wichtig sei", betonte die Sozialpädagogin und Therapeutin Dorothea Strietzel. Sie leitet das kiasu-Projekt in Augsburg.
Ist diese Bindung gestört, lasse sich das auch am Verhalten der Kinder ablesen. Bei einer "sicheren Bindung" suche z.B. das Kind den Körperkontakt mit der "Bindungsperson", wenn diese nach einer Abwesenheit zurückkehrt. Bei einer "unsicher vermeidenden Bindung" habe das Kind keinen Wunsch nach Körperkontakt und versuche die Bindungsperson auch aktiv abzuwehren. Ist die Bindung "unsicher und ambivalent", dann sei Kind während der Trennung extrem erregt und wenn die Bindungsperson zurückkomme, lasse sich das Kind nicht gleich beruhigen. Einerseits suche das Kind die Nähe, gleichzeitig könne man aber Wut und Widerstand erkennen. Bei einer "desorganisierten Bindung" zeige das Kind ein widersprüchliches Verhalten. Einerseits suche es die Nähe zur Bindungsperson, andererseits vermeidet und ignoriert es sie. Dabei könne das Kind auf einmal in Trance fallen und plötzlich motorisch einfrieren.
Welcher Art die Bindung ist, das hat Folgen für die Kinder. Unsichere wie auch desorganisierte Bindungen versetzen die Kinder in ständige Stresssituationen. Zum Beispiel lasse sich starres Denken und Handeln feststellen. Zudem verhalten sich Kinder mit einer unsicheren Bindung im sozialen Umfeld weniger empathisch. Bei "desorgansierten Bindungen" würden, so Strietzel, die Kinder zu unangemessenem und aggressivem Verhalten neigen. Tagträume seien nicht selten. Ihre Fähigkeit, die Emotionen zu regulieren, ist grundsätzlich gestört. Im Erwachsenenalter leiden sie unter psychischen Erkrankungen wie Borderline, Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen. Die Gefahr, suchtkrank zu werden, ist ebenfalls deutlich stärker ausgeprägt. Auch die Selbstmordrate ist bei diesem Bindungsmuster deutlich höher.
Deshalb ist es für Strietzel wichtig, dass man auf die Kinder und ihre Bindungen zu ihren Eltern sehr genau achte. "Wir müssen achtsam sein. Die Ersteinschätzung des Risikos für die Gefährdung des Kindeswohls muss frühzeitig erfolgen und für alle Betroffenen - die Kinder und die Eltern aus suchtbelasteten Familien - müssen früh die Hilfen geplant werden."
Strietzel und Habermann unterstrichen in ihren Vorträgen, dass sie suchtkranke Eltern nicht verurteilen wollen. "Sie lieben ihre Kinder und sie wollen gute Eltern sein", betonte Habermann nachdrücklich. "Doch wenn das Monster Suchtmittel, der Alkohol, Drogen oder die Glücksspielsucht, aktiv sind, die Sucht sie gerade beherrscht, können sie sich nicht ihren Kindern widmen, sich ihnen nicht zuwenden." Ihre Fähigkeit, mit ihren Kindern in Beziehung zu gehen, werde demnach immer wieder unterbrochen. "Ein durchgängiges Problem bei suchterkrankten Eltern."
Die Gäste des Fachtages luden Habermann und Strietzel wiederholt in ihren Vorträgen ein, "genau hinzuschauen" und sich ihrer fachlichen Einschätzung zu trauen. "Wenn Sie das Gefühl haben, da stimmt etwas nicht, dann stimmt da auch etwas nicht." Auf jeden Fall muss die ganze Familie eingebunden werden. Ein Kind aufzufordern, über die Suchterkrankung zu sprechen, das sei der falsche Weg. "Für das Kind wäre es Verrat."
Kinder in suchtbelasteten Familien brauchen deshalb die Möglichkeit, Verlässlichkeit und stabile Beziehungen zu erleben und zu erfahren. "Solidaritätserfahrungen bilden den Grundstein der Selbsthilfe." Das breite und bunte Angebot des kiasu-Projektes in Dillingen stellten Ulrike Franken und Constanze Bögel von der Suchtfachambulanz der Caritas in Dillingen vor. Erlebnispädagogische Maßnahmen wie Ausflüge gehören zum Programm genauso wie Basteln und Malen. Auch klären die beiden Pädagoginnen altersgemäß über die Suchterkrankung auf, um den Kindern klar zu machen, dass sie in keiner Weise an dem auffälligen Verhalten der Eltern schuld sind. So lernen die Kinder sich abzugrenzen und eigene Stärken wie auch "Selbstwirksamkeit" zu entfalten.
Einen besonderen Zugang zu den Kindern haben dabei Tiere. So gehört die tiergestützte Einzel- und Gruppenarbeit ebenfalls zu dem Kiasu-Projekt. Habermann brachte deshalb ihre beiden Jack-Russel-Hunde Maja und Finn mit. Maja ist die fünfjährige Mutter und Finn ihr drei Monate alter Sohn. "Tiere sind die Türöffner für die Kinder", sagt Habermann. Die Kinder gehen automatisch in einen Kontakt mit ihnen genauso wie die Tiere es auf jede seine Weise auch tut - ob Hund, Katze, Schaf oder Pony. Weil dank des Tieres nicht die Kernproblematik, die Sucht der Eltern und das dadurch belastete eigene Leben im Mittelpunkt stehe, tue man sich als Begleiter und Berater um vieles leichter, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, selbst mit jenen, die schwer traumatisiert und extrem verschlossen seien.