Wie es dennoch gelingen kann, dass Menschen unabhängig ihres eigenen individuellen Hilfebedarfs in ihrem Heimatort daheim bleiben können, wird seit eineinhalb Jahren in der Lechfeldgemeinde Graben versucht und umgesetzt. Die ersten großen Ergebnisse wurden nun bei dem Fachtag „Damit Ihr Dorf eine Zukunft hat“ in Augsburg vorgestellt.
Rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Bürgermeister, kommunale Verantwortliche wie auch Vertreter unterschiedlicher Wohlfahrtsverbände hatten diesen Tag genutzt. „Ich bin sehr dankbar dafür“, sagte zum Beispiel Ettringens Bürgermeister Robert Sturm. „Wir können viel daraus lernen, auch wenn wir, weil wir in Ettringen andere Strukturen haben, wohl manches anders machen.“ Ettringen hat aber eines gemeinsam mit Graben. Es zählt zu den Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern, in denen rund ein Drittel der bayerischen Bevölkerung lebt. Martin Sailer, Landrat des Landkreises Augsburg, nannte es deshalb ein „Leuchtturmprojekt“, für das er selbst auch verstärkt werben wolle.
Seinen Anfang hatte das Projekt mit der Erkenntnis des Bürgermeisters von Graben, Andreas Scharf, genommen. Er musste lernen, dass die Bürger entgegen zuerst geäußerter Meinung doch lieber daheim wohnen bleiben als in eine besondere Wohnanlage für ältere Menschen ziehen zu wollen. Diese Frage, „was der Bürger eigentlich will“, war schließlich der Anstoß zu einer „symbiotischen, vielleicht auch zukunftsweisenden Zusammenarbeit von Kommune und Caritas“, wie es Diözesan-Caritasdirektor Domkapitular Dr. Andreas Magg formulierte. Der Wohlfahrtsverband übernahm nicht wie klassisch eine soziale Aufgabe von der öffentlichen Hand, sondern arbeitete eng mit der politischen Führung und Verwaltung Grabens zusammen. „Wir beide lernten sehr viel dabei“, sagte der Diözesan-Caritasdirektor.
Die Caritas hatte es abgelehnt, beim Aufbau eines Betreuten Wohnens mitzuwirken, sondern lud dazu ein, in Graben ein „Inklusions- und Sozialraumprojekt“ in Graben umzusetzen. Bürgermeister Scharf ging diesen Weg mit. Die Caritas wollte von Anfang des Projektes in 2013 an, dass nicht nur die älteren Menschen in den Blick genommen werden. Die Grundsatzforderung lautete und wird seitdem konsequent verfolgt: „Die Inklusion als die selbstverständliche Einbezogenheit aller Menschen in ihre jeweiligen sozialen Kontexte mit gleichberechtigten Zugängen zu Teilhabe und Teilgabe.“
Dabei nur auf den Einzelnen und seinen spezifischen Hilfebedarf zu schauen, verenge den Blick auf den Einzelnen und übersehe dabei das soziale Umfeld des Betreffenden. Deshalb baute die Caritas – und die Gemeinde Graben ließ sich von Anfang an darauf ein – das Projekt nicht nur auf der Zielvorstellung der Inklusion auf, sondern nahm den gesamten Sozialraum Graben mit in den Blick, wie Dietmar Bauer, Leiter des Sozialbereiches des Diözesan-Caritasverbandes in seinem Vortrag erläuterte. In diesem Sozialraum seien die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zu schaffen, „damit die Menschen miteinander die Probleme auch selber lösen können“.
Prof. Plankensteiner wie auch Bauer betonten gemeinsam den Prozesscharakter von Inklusion, die erst dann erfüllt wirklich erfüllt sei. wenn „die Alltäglichkeit im Umgang mit der Unterschiedlichkeit“ hergestellt ist und das Etikett „Inklusiv“ überflüssig wird, ein „inklusives Café“ nicht mehr so benannt werden muss, sondern wie jedes Café nur „Café“ genannt wird.
Damit eine Gemeinde sich auf diesen Weg mache, verlange, so Prof. Plankensteiner eine klare und eindeutige politische Willensentscheidung. „Ohne die geht es nicht.“ Gleichzeitig dürfe eine Kommune sich nicht anmaßen, das selbst umsetzen zu können. „Die Inklusionsprozesse müssen professionell begleitet und angeleitet werden. Ehrenamtliche können das nicht alleine leisten.“ Wesentlich ist ebenfalls eine „Kultur der Mitverantwortung aller Bürger für alle Bürger“. Diese können aber wiederum nur wachsen, wenn Strukturen geschaffen werden, die dafür sorgen, dass diese Prozesse angestoßen und aufrechterhalten werden. „Inklusion geschieht nicht von allein“, so die Soziologie-Professorin.
Das Projekt in Graben zeige des Weiteren, worauf es wesentlich ankomme. Das Inklusionsbüro müsse zwar wegen seines Charakters als Anlaufstelle im Rathaus angesiedelt sein, dürfe aber keine Verwaltungsaufgaben übernehmen. Gleichzeitig gelte es für die Mitarbeiterin des Büros Inklusives Graben im gesamten Sozialraum der Gemeinde Präsenz zu zeigen, in den Gremien, bei den Vereinen, öffentlichen Veranstaltungen oder einfach auf der Straße. „Nur so kann eine koordinierende Inklusionsarbeit geleistet werden“, so Prof. Plankensteiner.
Das Projekt kommt offensichtlich bei den Menschen in Graben an. „Es entstand eine neue Identität“, so die Soziologin Prof. Dr. Annette Plankensteiner von der Dualen Hochschule in Stuttgart. „Man versteht sich nicht mehr als Gräbinger und Lagerlechfelder nach den beiden Gemeinde-Ortsteilen, sondern als LagerlechfeldGrabener.“ Das neue Miteinander sei dadurch gewachsen, indem der Inklusionsprozess durch die Sozialpädagogin Vera Lachenmaier und Leiterin des „Büro Inklusives Graben“ begleitet und angeleitet wurde und sich alle in einem „kommunikativen Herstellungsprozess“ dem Gedanken der Inklusion geöffnet und daran beteiligt habe.
Dass dies nicht nur blanke Theorie ist, sondern das Projekt inzwischen ganz konkrete messbare Auswirkungen hat, zeige sich in Graben. Dort wurde durch die gezielte Förderung und Begleitung des ehrenamtlichen Engagements der eigentlich bereits bestehende Helferpool reaktiviert. Heute zählt er 44 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer und hat über 100 Aufträge für eine Leih-Oma, Leih-Opa oder –Tante, einen Besuchsdienst und viele andere kleine Dienste. „Die Selbstverantwortung wurde also aktiviert.“ Damit entstand ein „funktionales und zweckgerichtetes Netzwerk“, das erste Veränderungen auslöste. Es wurde die Seniorenplattform „Ü60“ gegründet. Die Gräbinger und Lagerlechfelder „Seniorenorgane“ stehen damit nunmehr miteinander in Kontakt und wurden unter dem Dach der Gemeinde zusammengefasst. Die Bürgerinnen und Bürger gehen mehr aufeinander ein und sind bereit sich füreinander zu engagieren. Gleichzeitig habe sich die Haltung auch der hilfebedürftigen Menschen gewandelt. „Viel mehr Menschen lassen sich jetzt auch helfen und empfinden es als normal“, sagte Scharf.