Führungskräfte scheitern deshalb bei der Suchtprävention. Die Ausrede, die man oft hört: "Ich war mir nicht sicher, ob er wirklich alkoholkrank ist, und ich wollte ihm nicht zu nahe treten." Dr. Elisabeth Wienemann von der Universität Hannover, die die Gelegenheit hatte, auch Personalunterlagen von suchtkranken Personen einzusehen, ist zutiefst darüber verwundert: "Was mussten die denn noch alles machen, bis interveniert wurde." Sie und Barbara Habermann, Leiterin des Referates Sucht und Psychiatrie des Caritasverbandes für die Diözese Augsburg, warben deshalb bei der Fachtagung der Suchtbeauftragten der deutschsprachigen Diözesen in Augsburg für eine früh- und rechtzeitige Suchtprävention, nicht nur in den Betrieben, sondern auch in den Diözesen. "Wer das Problem nicht anspricht, der verlängert es. Und das kann zu vielen negativen Folgen, auch zu Unfall oder zum Tod des Betroffenen oder Unschuldiger führen", so Habermann.
Dr. Wienemann erinnerte in ihrem Vortrag deshalb mit Nachdruck an den Präventionsauftrag des Betriebes im Rahmen der Allgemeinen Grundsätze des Arbeitsschutzgesetzes. "Wir schauen nicht mehr auf die betreffende Person erst dann, wenn sie nicht mehr kann, sondern wenn sie gefährdet ist." Das sei auch im Interesse des Unternehmens. 80 Prozent der Verstöße gegen die Arbeitssicherheit würden durch Personen mit riskantem Alkoholkonsum erfolgen. Diese repräsentieren 14,2 Prozent der Prävalenzrate des Alkoholkonsums in der deutschen Bevölkerung von 18 - 64 Jahren. 69,5 Prozent dagegen bewegen sich noch im risikoarmen Bereich. "Wir würden deshalb gerne diese Menschen im risikoarmen Bereich belassen und die Menschen in dieser Phase ansprechen. Wir hätten damit eine längere Phase mit ihnen zu sprechen, bevor sie abhängig werden könnten." Von risikoarmen Alkoholkonsum spricht man heute bei einem Mann, wenn er täglich einen halben Liter Bier trinkt, und bei einer Frau, wenn sie 0,1 Liter Weißwein trinkt. Für Dr. Wienemann ist es auch deshalb von zentraler Bedeutung, rechtzeitig betroffene Menschen anzusprechen, weil der Übergang von risikoarmen zu riskantem, dann schädigendem und abhängigem Konsum schleichend ist.
Wenn man Kolleginnen oder Kollegen bzw. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anspreche, weil man beobachte, dass zum Beispiel die Aufmerksamkeit und dadurch die Informationsaufnahme vermindert sei, die Geschicklichkeit nachlasse, die Reaktionszeiten sich verlängerten, solle man nicht mit dem Begriff "Sucht" oder "Missbrauch" in die Tür fallen. Diese Begriffe entstammen der Diagnostik und stünden deshalb Kollegen oder Vorgesetzten schlichtweg nicht zu. Auch würde es nur dazu führen, dass die angesprochenen Menschen sich verschließen. "Machen Sie ein Hilfeangebot, suchen Sie einfach das Gespräch und fragen nach, was los ist!", empfahl stattdessen Dr. Wienemann. "Und machen Sie das Hilfeangebot nicht zur Strafe!" Führungskräfte sollten auf jeden Fall frühzeitig intervenieren und dann konsequent mehre "fürsorgliche und lösungsorientierte Gespräche" führen.
Barbara Habermann erläuterte schließlich detailliert, wie es zu einer Suchterkrankung kommen könne.
Bier, Wein oder Schnaps, aber auch Drogen und Medikamente enthielten immer ein Versprechen. Sie wirkten sich positiv auf das Erleben und Empfinden aus. Anhaltender Stress, innerlich und äußerlich getriebenes Arbeitsleben würden eine Suchterkrankung begünstigen. Suchtmittel würden dann genutzt, um diese Belastungen bewältigen zu können. In der Fachwelt spricht man von einer "Coping-Strategie".
Die anfänglich so positive Veränderung des eigenen Empfindens, das man nicht nur mit Alkohol, sondern auch durch Medikamente wie Schmerzmittel erreichen könne, wolle man wieder erreichen. Bald aber reiche ein Bier oder eine Tablette nicht mehr aus, um das positive Gefühl wieder zu erlangen. Über die Wiederholung des Verhaltens komme es zu einer "Generalisierung der Lernerfahrung". Problematisch dabei sei vor allem, dass dadurch alternative Strategien zur Regulation der eigenen Befindlichkeit ausgeblendet würden, so Habermann. Dadurch verfestige sich die Gefahr einer Suchtentwicklung.
"Und dann grüßt täglich das Suchtgedächtnis", so Habermann weiter. Stecke der Mensch wieder in einer Belastungssituation, erinnere ihn das Suchtgedächtnis daran, "dass das Suchtmittel ihm schon einmal gut getan habe". Nun an die Vernunft zu appellieren, helfe aber nicht. Der Grund: Die Sucht wird im Limbischen System des Gehirns verankert, dort wo auch die Emotionen und das Triebverhalten angesiedelt sind. Die Vernunft hingegen habe ihren Sitz im präfrontalen Kortex. "Treten Sie deshalb in freundlicher Weise an die Menschen heran, suchen Sie den Kontakt und lassen Sie ihm Wertschätzung widerfahren", empfahl die Leiterin des Referates Sucht und Psychiatrie des Augsburger Diözesan-Caritasverbandes. Eine Verhaltensveränderung auf Knopfdruck gebe es nicht. Man müsse mit dem Betroffenen gemeinsam eine andere Bewältigungsstrategie entwickeln. "Und bis dies gelingen kann und weil in diesem Prozess so viel im Gehirn in der Umwandlung sich befindet, braucht es jemanden, der einem die Hand reicht, ihm hilft und dran bleibt." Besondere Aufgabe der Suchtbeauftragten sei es deshalb, auch Vorgesetzte, Führungskräfte und Personalverantwortliche zu informieren. "Man braucht Verständnis, um damit richtig umgehen zu können." Denn wenn dieser Personenkreis weiß, was er will und wie er das Thema verständnisvoll ansprechen kann, "dann haben wir bereits die halbe Miete für den Erfolg der Suchtprävention", so Habermann.