Durch die positive Reaktion der Mutter werden im Gehirn Glücksbotenstoffe ausgeschüttet. Das Miteinander, die Reaktion auf den anderen Menschen, bleibt so schon für das Baby hoch attraktiv. Das wiederum verstärkt das Erlernen sozialer Kompetenz. Das Kind erlernt sie nebenher. Es ist ein somit sozialer Selbstlerner.
Menschen mit einer Autismus-Störung sind das nicht. Sie schauen nicht wie andere Babys in die Augen der Mutter. So erleben sie wenig oder gar nicht das Glücksgefühl, das ihr Verhalten eine Reaktion
auslöst. Bei ihnen fehlt deshalb der "selbstbelohnende Entwicklungsturbo", wie es Dr. Brita Schirmer aus Berlin ausdrückt. "Kinder mit einer Autismus-Störung erlernen deshalb soziale Normen und Regeln nicht so einfach nebenbei. Sie spüren es nicht, was geht oder was nicht geht. Sie haben eine soziale Sehbehinderung." Die Folge: Sie verhalten sich anders, orientieren sich nicht an allgemein gültigen sozialen Verhaltensregeln. Das Ergebnis: Die nicht-autistische Umwelt erlebt das Verhalten autistischer Menschen als herausfordernd und störend. Sie fühlt sich gestresst.
Dr. Schirmer, in der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung in Berlin tätig, setzt sich seit vielen Jahren damit auseinander, wie Eltern, Erzieher, Betreuer oder Lehrer mit diesem Verhalten umgehen können. Beim Fachtag Autismus des Kompetenzzentrums Autismus Schwaben-Nord des Augsburger Diözesan-Caritasverbandes erzählte sie davon, dass ein junger Mann bei der Begrüßung der Betreuerinnen diese immer an der Brust berührt habe. Auch erwähnte sie einen Schüler, der im Unterricht die ganze Zeit mit seinem Stift auf den Tisch geklopft habe. Beide Situationen waren für die Betreuerinnen bzw. die Lehrer und Mitschüler "unerträglich" und - im Fall der Frau - auch kränkend.
Dr. Schirmer sieht die Lösung der Konfliktsituation nicht darin, dieses herausfordernde Verhalten einfach hinzunehmen. Im Gegenteil: Soziale Integration könne nur gelingen, indem man die sozialen Verhaltensnormen und Regeln klar und konsequent einhält. Aber da Menschen mit Autismus die sozialen Gründe für ein Verhalten nicht erlernt haben und auch nicht erspüren können, wenn sie sich falsch verhalten, müsse man nach anderen Gründen suchen, um sie dazu zu bringen, die Regel einzuhalten. Die Kernfrage bei dieser Suche sei, "wofür lebt dieser Mensch, was ist sein Interesse?"
Im Fall des jungen Mannes half keine Logik. Denn, so seine Logik, die weibliche Brust sei nun mal schöner anzufassen als die kalte Hand. Die Regel, die Dr. Schirmer dann entwickelte, hieß dann für den jungen Mann: "Wenn Du künftig die Hand reichst, dann darfst Du auch zehn Minuten am Computer spielen." Der entscheidende Vorteil dieser Regelung liegt darin begründet, dass die soziale Regel - man fasst Frauen nicht an die Brust - eingehalten wird und für den jungen Mann ein höheres, ihm wichtigeres Ziel konkret gesetzt wurde, "weil der junge Mann sehr gerne am Computer spielte". So war der Grundstein für ein normales soziales Verhalten gelegt.
Das Kind, das ständig mit dem Stift klopfte, konnte sie dazu bringen, in der Schule nicht mehr alle zu stören und am Unterricht teilzunehmen, als sie herausfand, dass er ein Spezialinteresse an Toiletten hatte. "Wenn Du Dich ruhig verhältst, aufpasst und mitmachst, dann sage ich Dir auch, wie schwer ein Toilettendeckel ist", konnte so eine Regel sein. Sie musste freilich immer neue Informationen bieten. "Im Baumarkt begann man sich schon zu wundern, was ich alles über Toiletten wissen wollte."
Inflationär dürfen solche Belohnungsstrategien nicht eingesetzt werden. Ansonsten würden die Menschen mit einer Autismus-Störung nicht lernen, ihre Verhaltensimpulse zu kontrollieren. Nur wenn die Regel klar, eindeutig und konkret ist, in kleinen Teilschritten aufgeteilt wird, klare Grenzen gesetzt werden, bestehe deshalb die Chance, dass die Verhaltensnorm auch erlernt und eingehalten wird. Ein weiterer Tipp: "Formulieren Sie, was Sie möchten, nicht, was Sie nicht möchten. Denn Aufforderungen mit ‚nicht‘, pusht das impulsive System."
Strafen wie "Du gehst jetzt raus aus dem Klassenzimmer, Du darfst nicht auf den Pausenhof" seien keine Strafen für Menschen mit einer Autismus-Störung. Sie würden sich letztlich darüber freuen. Der Grund: Auf jeden Menschen dringen bis zu 70.000 Informationen pro Sekunde ein. Der Mensch ohne eine Autismus-Störung nimmt davon aber nur 70 bewusst wahr. Der mit Autismus hat diesen Filter nicht. Alle Informationen dringen auf ihn unmittelbar ohne Filter und Auswahlmechanismus ein. Das Klassenzimmer verlassen zu müssen oder nicht auf den Pausenhof gehen zu dürfen, bedeutet deshalb für ihn eine angenehme Reizminderung.
Werden die Reize stattdessen noch erhöht, indem man mit den betroffenen Menschen durch stark benutzte Straßen oder volle Kaufhäuser geht, "entsteht sehr schnell eine Overload-Situation". Sie sei für die Betroffenen die "Hölle". Angst und Panik würden sich nur ausweiten. "Dann hat dieser Mensch keine Reserven mehr, irgendeine Regel noch einzuhalten. Da ist er nicht mehr Herr seiner Entscheidungen." Gerät der Mensch mit einer Autismus-Störung in eine derartige "Selbstkontrollerschöpfung", "gewähren Sie ihm eine Pause, in der er sich erholen kann", empfiehlt Dr. Schirmer.