Was hat man davon zu halten, wenn eine afrikanische Mutter keine tiefe emotionale Bindung zu ihrem Kind zeigt? Diese und viele andere Fragen beschäftigen Erzieherinnen, die in ihrer Kindertageseinrichtung Flüchtlingskinder betreuen.
Es sind nicht viele, weniger als noch vor kurzer Zeit gedacht. In Deutschland sind es geschätzt 60.000 bis 64.000 im Alter von 0 bis sechs Jahren. 2.600 etwa werden in bayerischen Kindertageseinrichtungen aller Träger betreut. „Trotz der niedrigen Zahl müssen und wollen wir uns damit auseinandersetzen, wie wir diesen Kindern in unseren Einrichtungen am besten gerecht werden können“, so Mechtild Teuber. Sie leitet das Referat Kindertageseinrichtungen des Augsburger Diözesan-Caritasverbandes, das über 450 Kindertageseinrichtungen im Bistum Augsburg berät. Zwei Arbeitskreise im Bistum setzen sich mit dem Thema bereits seit zwei Jahren auseinander. Ein Arbeitskreis auf bayerischer Ebene wurde mit angestoßen. Ein wichtiges Ziel dabei ist die Fortbildung der Erzieherinnen. Am Mittwochabend waren sie nun eingeladen zu lernen, wie das Familienverständnis im arabischen und afrikanischen Kulturraum ist.
Allgemein gilt: Über die Grenzen der Kulturen und Länder hinweg habe die Familie die Funktion, ihren Mitgliedern moralische und emotionale Orientierung, aber auch Schutz zu bieten. Kinder erlernen in ihnen auch ihre Rollen als Frauen und Männer. So die Sozialanthropologin Gesa Bürger. Doch damit würden schon die Gemeinsamkeiten aufhören. Im arabischen Raum werde das Kind nur der Linie des Vaters zugeordnet. So ist dort der Vater der „Identitätsgeber“, die Mutter hingegen nur der „Nährboden“, die sich um die Versorgung und die Erziehung der Kinder wie auch um den Haushalt kümmere. Söhne sehen sich dadurch in einer Sonderrolle, da sie so aufgezogen werden, dass sie in die Stellvertreterrolle des Vaters hineinwachsen. Gelte im europäisch-westlichen Kulturraum das Prinzip der individuellen Verantwortung für ein Fehlverhalten, falle dies dem arabischen Familienverständnis nach auf die ganze Familie zurück. „Die Familie hat dort einen enorm hohen Wert, mehr auch als das eigene Land.“
Vor diesem Hintergrund, so Bürger, sollten sich Erzieherinnen nicht einfach über die Wertvorstellungen in der muslimischen Familie einfach hinwegsetzen, sondern das Gespräch suchen. „Wir haben einen Bildungsauftrag“, betonte Teuber. „Wir müssen unsere Kultur aufrechterhalten, aber wir müssen auch sehen, dass Kinder aufgrund ihrer Prägungen manches bei uns als schwierig empfinden“.
In einem Fall, von dem eine Erzieherin berichtete, wehrte sich ein muslimischer Junge gegen ihre Anweisungen. Die Erzieherin sprach daraufhin mit den Eltern. Der Mutter war das Verhalten ihres Sohnes peinlich, der Vater sei stolz gewesen. Am Ende jedoch einigte man sich darauf, dass im Kindergarten andere Regeln gelten als zuhause in der Familie.
Während im arabischen Raum das Kind in der Familie bleibt, sieht das im afrikanischen Raum anders aus. Hierbei bezog sich die Sozialanthropologin auf Studien zu Nigeria. Dort würden Verwandtschaftsbeziehungen „transferiert“. Im Alter von sechs Jahren – erst ab dann würde bei Kindern die Erinnerungsfähigkeit einsetzen, so dort die Überzeugung – würden Verwandte die Kinder aus der Geburtsfamilie abholen und für sie die Verantwortung bis ins Erwachsenenalter übernehmen. Schon nach der Geburt werde Wert darauf gelegt, dass nicht die Mutter das Kind zuerst in den Arm nehme, sondern Onkel und Tanten. Später, wenn das Kind in der Familie des Onkels oder der Tante aufgezogen werde, könne die biologische Mutter zwar ihr Kind besuchen, es werde dabei aber darauf geachtet, dem Kind emotional durch Umarmungen nicht zu nahe zu kommen. „Das macht es dann auch verständlich, wenn die „sozial konstruierte Mutter-Kind-Beziehung“ nüchterner ist, von Distanz geprägt ist, so Bürger. „Man hat also dort als Mutter kein Exklusivrecht auf das eigene Kind.“ Und für die Erzieherinnen stelle sich dann logischer Weise die Frage, wer denn nun wirklich das Sorgerecht nach dem deutschen Recht habe. Der Bruder nicht der eigentliche Bruder ist, und ein Vater sage, sein Sohn sei nicht hübsch, weil er ihm nicht ähnlich sehe.
Bürger sprach dann auch darüber, was die Kinder auf der Flucht am meisten prägt. Ständig würde ihnen gesagt, sei ruhig, wein‘ nicht, schrei‘ nicht, halt‘ durch, jammere nicht usw. Hintergrund für die harschen Anweisungen der Mutter oder des Vaters sei, dass wenn die Eltern in diesen Momenten auf die Kinder eingehen würden, sie auf der Flucht zurückfallen und damit den Anschluss an ihre Flüchtlingsgruppe verlieren würden. Würden die Kinder ihre Eltern verlieren, lernen sie, still und ruhig zu bleiben und einfach den anderen zu folgen. „Deshalb sind diese Kinder in den Kindertageseinrichtungen so ruhig, machen alles mit, weil sie eben darauf in einer schweren Zeit getrimmt wurden“, erklärt Bürger. „Und erst wenn sie sicher, wohlgeborgen und gemocht fühlen, dann bricht all der Schmerz aus ihnen heraus, sie schreien und wälzen sich auf dem Boden.“ Ihr Tipp an die Erzieherinnen: „Lassen Sie es zu. Es ist ein gutes Zeichen, auch für Sie und Ihre Arbeit.“