Caritas Dillingen lud zu "Politischem Frühstück" mit Armutsbetroffenen ein - Caritas-Direktor Müller: "Wir brauchen einen engen Schulterschluss"
Dillingen / Augsburg, 06.11.2024 (pca). Franz Neumeier (64) hatte 43 Jahre lang im 3-Schichtbetrieb gearbeitet. Seit einer Schulter-OP kann er seiner Arbeit nicht mehr nachkommen. Heute muss er mit gerade mal 13 Euro zum Leben am Tag auskommen. Nicht anders geht es Gertraud Leins. Nach 36 Jahren als Montiererin bezieht sie heute 830 Euro an Rente und 146 Euro Grundsicherung. 350 Euro bleiben ihr im Monat zum Leben übrig. Sie ist gesundheitlich angeschlagen. Lange hatte sie in ihrer Arbeit Metallstaub und -späne eingeatmet. Ihr fehlt heute nach einer Operation eine Lunge. Martin (41), der bewusst nicht seinen vollständigen Namen genannt haben will, blickt auf jahrelange erfolgreiche Arbeit als Bürokaufmann und Assistent einer Geschäftsführung zurück. Dauerhafte Überlastung stürzte ihn in Burnout und Depression. Ein Jahr musste er auf eine Therapie warten. Derzeit erhält er kein Arbeitslosengeld, obwohl er dazu berechtigt ist, weil es nicht ausgezahlt werden kann, solange der Medizinische Dienst des Amtes nicht sein Okay gibt. Andreas Eschbaumer (28) blickt auf eine schwierige Familiensituation im Elternhaus zurück, die ihm schon vor dem Berufsleben die innere psychische Stärke raubte.
Vier Schicksale, die nur einen kleinen Bruchteil der insgesamt 17 Millionen von Armut gefährdeten und betroffenen Menschen in Deutschland darstellen. Der Caritasverband für den Landkreis Dillingen hat nun im Rahmen der internationalen Armutswochen und der deutschlandweiten Caritas-Kampagne "Frieden beginnt beim Zuhören" zu einem Politischen Frühstück mit Politiker*innen ins Caristo im Caritas-Zentrum in Dillingen eingeladen. Mit dabei waren der Augsburger Diözesan-Caritasdirektor Diakon Markus Müller und der Geschäftsführer der Freien Wohlfahrtspflege Bayern und Verwaltungsdirektor des Landes-Caritasverbandes Bayern, Wilfried Mück, Dillingens Bürgermeister Frank Kunz (CSU), Joachim Hien (Die Grünen), Bezirksrat Dr. Johann Popp (CSU), der Kreisverbandssprecher der Grünen Constantin Jahn, Kreistagsmitglied Walter Fuchsluger (SPD) und die Landtagsabgeordnete Marina Jakob (Freie Wähler). Bürgermeister Kunz brachte es auf den Punkt, warum er den Austausch suchte: "Das Thema ist mir zu wichtig, als dass ich mich hier hätte vertreten wollen".
Die Sprecherrolle bei dem Politischen Frühstück hatten nicht die Vertreter aus Kommune, Landkreis, Bezirk und Landtag inne, sondern die vier genannten von Armut betroffenen Menschen. Caritas-Geschäftsführer Alexander Böse und Laura Kabashi von der Allgemeinen Sozialberatung der Caritas wollten, dass die Politiker zuhören. "Betroffene fühlen sich nicht gesehen, nicht gehört, sondern lächerlich gemacht und mit Pauschalurteilen konfrontiert. Doch jeder Fall ist anders als der andere, jede Problemlage anders als die andere", so die Sozialarbeiterin Kabashi. "Armut hat keine Lobby", beklagte Böse. Von dem Austausch erhofft er nun nachhaltige Wirkung.
Diözesan-Caritasdirektor Müller reicht das Zuhören allein nicht. "Nehmen Sie die Anliegen der Betroffenen in die Arbeit ihrer politischen Gremien mit hinein." Er versprach, seine Stimme für armutsbetroffenen Menschen immer wieder erheben zu wollen. "Denn es kann nicht sein, dass die Schwächsten die Ersten sein sollen, die die Folgen einer negativen wirtschaftlichen Entwicklung zu tragen haben." Er plädiert für einen engen Schulterschluss und ein lösungsorientiertes Miteinander auf kommunaler Ebene und mit dem Bezirk, da "der Sozialstaat derzeit schwankt".
Mück vom Landes-Caritasverband warnte davor, die Standards herabzusetzen. "Das ist keine Lösung. Sie bringen Ihr Auto auch nicht zu einer Werkstatt, wo sich Ehrenamtliche daran versuchen können", sagte er in Richtung Politik. Es lohne sich auch, die Caritas in ihrer Arbeit auch finanziell zu unterstützen. "Die Wohlfahrtsverbände der Freien Wohlfahrtspflege sind mit 409.000 Beschäftigten ein ernst zu nehmender Wirtschaftsfaktor. "Von jedem einzelnen Euro, der uns anvertraut wird, fließen 48 Cent an den Staat indirekt zurück." Deutschlandweit wird in 25.453 Einrichtungen des Caritas-Netzwerkes täglich zugehört, beraten und unterstützt.
Sozialarbeiterin Kabashi setzte einen harten Kontrapunkt zu Müllers und Mücks Worten. "Wenn es uns nicht mehr gibt, wird vieles zusammenbrechen, auch Menschen werden zu verhungern drohen." Damit richtete sie wieder den Blick auf die Menschen, um die es bei diesem Politischen Frühstück ging. "Wir wollen helfen und können auch helfen. Wir können es aber nicht, wenn Behörden und Politik uns Steine in den Weg legen." Ohnehin sei es "wahrlich nicht leicht, mit 563 Euro im Monat zurecht zu kommen". So der aktuelle Betrag, der das Existenzminimum in Deutschland sichern soll.
Was das heißt, erfuhren alle Politikergäste im Caristo aus erster Hand. Kabashi lud sie ein, von Tisch zu Tisch zu gehen, um sich mit den vier so unterschiedlichen Lebenswegen und Schicksalen auseinanderzusetzen. Leins, Neumeier, Eschbaumer und "Martin" zeigten keine Scham, über sich zu sprechen. Sie bewiesen Mut damit. Und nicht nur das. Sie zeigten, dass es Not tut, Akzeptanz für armutsbetroffene Menschen zu leben und Vorurteile vom "faulen Bürgergeldempfänger" nicht mehr in den Mund zunehmen.
Neumeier teilt sich im Monat jeden Löffel Müsli genau ein, damit er nachts nicht mit knurrendem Magen aufwacht. Hätte ein Freund ihm nicht seinen Roller zur Verfügung gestellt, hätte er sechs Euro seines Tagesbudgets für den Bus von Lauingen bezahlen müssen. "Dann hätte ich nicht an der Veranstaltung teilnehmen können." Bürgermeister Kunz bewundert ihn für seine strenge Haushaltsplanung. "Hut ab!" Dennoch: "Das darf nicht sein, dass man lebenslang arbeitet und dann am Lebensabend nicht gut versorgt ist."
Dass Bewilligungsverfahren der Behörden alles andere als hilfreich sind, davon konnte "Martin" eine lange Geschichte erzählen. Er hatte wegen seiner Erkrankung Krankengeld bezogen. Dank der Therapie und der Begleitung durch die Caritas fühlt er sich wieder fit für eine Arbeit. Da er aber noch keine Anstellung hat, stellte er einen Antrag auf Arbeitslosengeld. Doch das erhält er erst, wenn der Medizinische Dienst alle beteiligten Stellen abgefragt hat, ob er tatsächlich wieder arbeitsfähig ist. Solange das nicht der Fall ist, wird kein Arbeitslosengeld ausgezahlt. Und das schon seit Monaten. Aufgrund seiner finanziellen Situation hätte er auch ein Anrecht auf Wohngeld. Doch der Antrag dazu kann wiederum nur bearbeitet werden, wenn der Arbeitslosengeldbescheid vorliegt. Mück vom Landes-Caritasverband: "So etwas darf nicht sein. Das produziert mehr Arbeit und mehr Kosten als nötig."
Dieses Beispiel unterstrich einmal mehr, wie wichtig es ist, voneinander zu wissen, um Probleme gezielt anpacken zu können. Bezirksrat Dr. Popp war deshalb dankbar für die Runde. "Es ist immer wichtig, ein Problem von zwei Seiten zu betrachten." So war das Politische Frühstück eine zwar seltene, aber vielleicht nicht die letzte Gelegenheit das zu überwinden, was die Landtagsabgeordnete im Gespräch mit Eschbaumer beklagte: "Wir kommen bislang leider nicht so richtig zusammen."