Das Urteil von Betroffenen und Fachleuten aus der Beratung war eindeutig und doch differenzierend. Ein Autist fand sich ein Stück in Pierre wieder. Ihm gefiel dabei besonders, dass er nach einer Reizüberflutung und dem folgenden Totalrückzug in sich selbst "sich wieder aufschließen konnte". Die Kommunikationssituationen wie auch die Beruhigungsmechanismen beurteilten Sonja Jacobs und Irene Schick vom Kompetenzzentrum Autismus beim Caritasverband als realistisch. Zu dem Filmabend hatten die Augsburger "Beteiligung am Leben gGmbH" im Rahmen der Filmtage "Gesundheit ist relativ" eingeladen. Gefördert wurden die Filmtage von Aktion Mensch.
Wer den französischen Film, wohl aus Vermarktungsgründen nicht ganz richtig als französische
Liebeskomödie bezeichnet, richtig verstehen will, der benötigt ein paar Grundkenntnisse über Autismus. Sonja Jacobs vom Kompetenzzentrum Autismus - Schwaben Nord war deshalb dankbar dafür, vor der Filmvorführung ein paar Worte über Autismus sprechen zu können. Kernproblem aller Autisten sei, dass alle Reize ungefiltert ins Gehirn gelangen. Die Sinnesorgane, Augen, Ohren, Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn seien dabei organisch völlig gesund. Nur der natürliche Reizfilter sei nicht vorhanden.
Diese angeborene Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung führten deshalb dazu, dass Betroffene länger brauchen, diese "Informationen" zu verarbeiten, sie sich ständig fragen müssen, was diese oder jene Information für sie bedeute und welche sie gerade für ihre momentane Situation bräuchten. "Das ist unheimlich anstrengend. Das kann im Extremfall zur Überreizung und zum Zusammenbruch führen", sagte Jacobs.
Den Vorwurf, Autisten seien gefühl- oder teilnahmslos bzw. auf sich selbst bezogen und könnten sich nicht auf andere konzentrieren, ließ die Autismus-Beraterin nicht gelten. "Das wirkt nur so. Er braucht nur Zeit, um all die Reize zu verarbeiten." Selbstbetroffenen fehle auch das Vermögen Sprache intuitiv in ihren Bedeutungszusammenhängen verstehen zu lernen. Deshalb zeichneten sich Menschen mit Autismus durch ein wörtliches Verständnis von Wörtern und Worten und eine sehr direkte klare Sprache aus. Wenn Emma, gespielt von Lucie Fagedet, zu Pierre (Benjamin Lavernhe), sagt "Wegen Dir habe ich meinen Arbeitsplatz verloren" und sie beide unmittelbar vor diesem Arbeitsplatz, einer Kneipe, sitzen, erscheint dann mit dem Vorwissen über das wortwörtliche Verständnis Pierres Antwort "Wieso, er ist doch noch da" nur logisch.
Jacobs wollte bei allen Hinweisen auf eine Autismusstörung keine eindeutige und einheitliche Definition und Beschreibung von Autismus anbieten. "Das wäre falsch. In seinen Ausprägungen ist der Autismus so unterschiedlich wie jeder Mensch selbst." Ihre Kollegin Irene Schick sagte bei der Diskussion im Anschluss an die Filmvorführung: "Wenn man einen Autisten kennt, kennt man deshalb noch nicht den Autismus." Der Film zeige ja nur einen sogenannten "Asperger-Autisten" mit seiner eigenen Übersensibilität gegenüber der Welt, wie es der Regisseur des Films Eric Besnard in einem Interview sagte.
Jacobs hatte den Film zuvor mit Betroffenen angeschaut und sie nach ihrer Meinung gefragt. Er sei zu klischeehaft, hätten sie kritisiert. Die Klischees von Autismus, eine merkwürdig erscheinende Zurückgezogenheit, die klare unverblümte und deshalb irritierende Ausdrucksweise wie auch Pierres emotionale Eigenheiten, seien aber, so hätten sie eingestanden, wie Jacobs berichte, wohl nötig, um einen erfolgreichen Film produzieren zu können. "Und vielleicht hilft er dabei Menschen mit Autismus besser zu verstehen", so ihre Meinung. Das wünscht sich auch die Autismus-Beraterin Schick. "Die Gesellschaft hat noch viel zu lernen, wie sie mit Menschen mit Autismus im Alltag umgehen sollte. Denn im Normal hätten die Menschen keineswegs so viel Verständnis für Autisten wie im Film gezeigt. Das ist leider völlig unrealistisch."