Ein Passant klatscht, mehrere beschweren sich lautstark. Die Polizei taucht auf. Eine Passantin bahnt sich den Weg durch den Drahtzaun, schubst eine Jugendliche weg. Mit diesem Smartmob haben 80 Jugendliche aus ganz Deutschland ein Zeichen ihrer Solidarität mit Flüchtlingen gesetzt. Mehr noch: Das „Refugees Welcome Lab“ war für viele Jugendliche aber erst der Auftakt für ihren persönlichen Einsatz für Flüchtlinge.
Vier Tage lang haben sich die 18- bis 26-Jährigen in der Willkommens-Werkstatt von „youngcaritas“ über das Thema Flucht informiert, Flüchtlinge und Hilfsprojekte kennengelernt und gemeinsam überlegt, was sie tun können. Auch das Feiern kam nicht zu kurz: An einem Abend gab es am Bochumer Theater Total eine spontane Party mit 50 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus der benachbarten Flüchtlings-Unterkunft. „Wenn man was zusammen macht, dann ist es plötzlich völlig egal, dass man nicht dieselbe Sprache spricht“, sagt zum Beispiel Anna Tschepat. Mit zwölf anderen besprühte sie mit jungen Flüchtlingen in Bochum Willkommens-Graffitis. „Nation: Mensch!“ steht jetzt auf einer Lok auf einem Bochumer Spielplatz.
Die Grafitti-Aktion war eine von fünf Exkursionen, bei denen die Jugendlichen in ganz NRW mit Flüchtlingen und Flüchtlingshelfern zusammen kamen. „Ich bin total beeindruckt. Diese Herzlichkeit. Sie haben uns in ihr Zimmer eingeladen und Kuchen gebacken“, berichtet Chiara Pöllen von ihrem Besuch in einer Flüchtlingsunterkunft. „Vorher hatte ich irgendwie auch Vorbehalte, aber man muss die Menschen einfach kennen lernen, ihre Geschichten erfahren. Deswegen bin ich hier hingekommen“, sagt die junge Essenerin.
Andere Jugendliche hörten im Hertener Rathaus, wie von jetzt auf gleich eine Unterkunft für 150 Menschen geschaffen werden musste. Vierzehn Teilnehmer und das Team des „youngcaritas“-Projektes des Bistums Münster hatten sich auf den Weg nach Herten gemacht, um sich dort über die Flüchtlingsarbeit vor Ort zu informieren. „Wohnen, Arbeiten, (Sich) Integrieren“ lautete das Motto der Exkursion, die von Schwester Stefanie und Freia Lukat vom Caritasverband Herten begleitet wurde.
Besucht wurde beispielsweise die Franz-Hahn-Werkstatt. In der Werkstatt für Arbeitserprobung und Persönlichkeitsentwicklung erklärte Werkstattleiter Karlheinz Feindert, wie vor Ort die Arbeit mit Langzeitarbeitslosen abläuft – vor allem sehr offen, stellte sich schnell heraus. Und: Kontakt und Zusammenarbeit mit Flüchtlingen ist nicht nur möglich, sondern auch ausdrücklich erwünscht.
Nach einer kurzen Fahrt durch Herten stoppte der Bus dann an der Schützenstraße. Vier Flüchtlingsfamilien aus Aserbaidschan, dem Kosovo, Somalia und der Mongolei haben hier im Rahmen des Wohnprojektes für junge Flüchtlingsfamilien ein erstes Zuhause gefunden – ein Zuhause auf Zeit, bis der Aufenthaltsstatus geklärt ist. Bärbel Timmermann vom Caritasverband Herten gab einen kurzen Einblick in das Zusammenleben der vier Familien. Sprache, Kultur, die erlebte Flucht – das alles wird täglich zum Thema. „Die Familien sind bemüht, Deutsch zu lernen“, sagt Timmermann. Damit der Lernprozess leichter fällt, haben die Familien Spickzettel in den Wohnungen aufgehängt. Und seit die Hausordnung bebildert ist, klappe auch die Erfüllung der Aufgaben viel besser, so Timmermann.
Mit den intensiven Erfahrungen aus den Besuchen erwuchsen bei den jungen Erwachsenen Fragen: Warum ertrinken tausende Flüchtlinge auf dem Mittelmeer? Warum müssen die, die es nach Deutschland schaffen, in Zelten schlafen? Warum schottet sich die EU mit Zäunen und Militär ab, statt zu helfen? Diese großen Themen brachten sie auf die politische Bühne: Im Bochumer „Theater Total“ trafen sie unter anderem mit Politikern zusammen und stellten ihre Fragen.
Serap Güler, NRW-Landtagsabgeordnete (CDU), antwortete, dass auch Politik das Sterben auf dem Mittelmeer nicht verhindern könne, „aber eindämmen können und müssen wir es. Wir können als viertgrößte Wirtschaftsnation noch mehr tun“, bekräftige die integrationspolitische Sprecherin ihrer Partei und forderte vom Bund noch mehr finanzielle Hilfen für Länder und Kommunen. Auch der Sozialdezernent der Stadt Essen, Peter Renzel, forderte eine gemeinsame, längerfristige Politik von Bund und Ländern. Vor einer langsam kippenden Stimmung gegen Flüchtlinge warnte der Generalvikar des Bistums Essen, Klaus Pfeffer. „Es gibt eine große Hilfsbereitschaft, aber auch große Vorbehalte. Wir dürfen die Leute nicht verurteilen, die Angst haben“, warb Pfeffer für eine stärkere Differenzierung in der Debatte. Heinz Drucks vom Flüchtlingsrat NRW warnte davor, Flüchtlinge in „die guten aus Syrien und die schlechten vom Balkan“ einzuteilen.
Neben den großen Fragen interessierte die Teilnehmenden des Welcome-Lab vor allem, wie sie selbst helfen können. Deshalb überlegten sie zum Abschluss, was sie anstoßen oder selbst machen wollen. Alex Meyer (24) zum Beispiel weiß jetzt, dass er sich in seiner Heimatstadt Düsseldorf für junge Flüchtlinge einsetzen will. „Wenn ich woanders wäre, würde ich mich auch freuen, wenn ich Jemanden in meinem Alter hätte. Das will ich jetzt machen.“
Wann und ob „youngcaritas“ die Willkommens-Werkstatt wieder öffnet, ist noch nicht klar. „Wir sind begeistert von dem Engagement, von der Kreativität und dem Interesse der Teilnehmenden“, bilanziert Irene L. Bär von youngcaritas Deutschland zufrieden. Veranstalter des „Refugees Welcome Lab“ waren „youngcaritas Deutschland“ und die NRW-„youngcaritas“-Projekte der (Erz-)Bistümer Münster, Essen, Köln und Paderborn. „youngcaritas“ fördert bundesweit das soziale Engagement junger Menschen. Unter dem Hashtag #welcomelab gibt es viele Bilder, Videos und Texte in den Sozialen Medien. Weitere Informationen unter www.youngcaritas.de
• Regionale O-Töne bekommen Sie bei den jeweiligen youngcaritas-Verantwortlichen: http://www.youngcaritas.de/nrw
084-2015 17. August 2015