Suchtberater kennen die extremen Ausprägungen dieser nicht stofflich gebundenen Verhaltenssucht. Sozialer Rückzug, Verwahrlosung bis hin zum Selbstmord. Grund genug für die Fachleute, sich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen. Das Bezirkskrankenhaus Augsburg, die Drogenhilfe Schwaben und der Caritasverband für die Diözese Augsburg hatten deshalb zum Fachtag Internetsucht eingeladen.
Bücher sprechen von "digitaler Demenz", vom Kulturverlust durch die modernen Möglichkeiten des mobil gewordenen Internets. Seit 2012 hat sich das Nutzungsverhalten der Menschen gravierend verändert. Die Smartphone-Technik machte das Internet zu jeder Zeit und überall nutzbar. 81 Prozent der 14- bis 21-jährigen Onliner nutzen inzwischen das mobil gewordene Internet. 58 Prozent nutzen täglich das Smartphone ob zuhause oder im Büro, beim privaten Essen im Restaurant oder wo auch immer. Ihr letzter Blick vor dem Schlafengehen richtet sich darauf, genauso wie ihr erster am Morgen. "Man ist ständig online, selbst wenn man in der Pause auf die Toilette geht", so der Mannheimer Medien- und Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Peter Vorderer. Man fühle sich ständig erreichbar und mit anderen verbunden. Das führt zu manch merkwürdigen Verhaltensweisen. Studenten zum Beispiel würden nur noch mit der Gabel in der rechten Hand essen, weil man in der linken das Smartphone hält.
Ist dies bereits ein Suchtverhalten? Oder wenn Schülerinnen und Schüler schon morgens auf dem Schulweg ständig ihr Smartphone vor sich hertragen? Oder wenn Jugendliche beisammensitzen und jeder schaut in sein Smartphone? Der Bonner Professor Dr. Thomas Eduard Schläpfer warnt jedenfalls davor, aus diesem Verhalten eine Sucht abzulesen. "Man muss sich die Situation genau anschauen", empfahl er. Es sei falsch, Verhaltensweisen zu dämonisieren, "die durch die moderne "kulturelle Verfügbarkeit und Zugänglichkeit erst entstehen, wir Ältere aber nicht verstehen".
Für Prof. Schläpfer stellt sich die Frage deshalb anders. Wann entsteht aus dem gelernten, erworbenen ein sozial gestörtes Verhalten? Wann kann man von nützlicher und wann von schädlicher Nutzung sprechen? Niels Pruin, Fachberater des Caritasverbandes für die Diözese Augsburg e. V. für Medien- und Internetsucht, bestätigt ihn. Bei über 85 Prozent der Fälle, die er bislang begleitet hat, war es kein Fall von einer Suchterkrankung, sondern fortwährender Streit in den Familien über die Häufigkeit und Form der Nutzung des Internets. Beide jedoch warnten aber gleichzeitig davor, das Thema Internet- bzw. Online-Sucht klein zu reden. "Wir müssen bereit sein, wenn aus einer Gebrauchsstörung eine psychische Krankheit entsteht." Daraus leitet Prof. Schäpfer seinen Rat für Eltern ab. Sie sollten schauen, welche Bedeutung das Handy für ihr Kind hat.
Auch Prof. Vorderer mahnt zu einer differenzierten Haltung. Der Mensch könne aufgrund seiner Veranlagungen Informationen nicht gleichzeitig verarbeiten. Hierin sieht der Wissenschaftler das entscheidende Problem der heutigen Mediennutzung. Durch die neuen vielfältigen Formen der Unterwegs-, Parallel- und Nebenbeinutzung durch das mobile und ständig nutzbare Internet würden Informationen oberflächlicher verarbeitet und weniger hinterfragt. Die Situation dabei ist paradox. "Es beschäftigt mich, weil ich es online wahrnehme, obwohl ich mich eigentlich nicht damit wirklich beschäftige."
Das verändere das Zusammenleben ganz wesentlich. In einer Studie mussten sich 100 Personenpaare miteinander unterhalten. Die eine Hälfte ohne Smartphone, die andere mit. Das Ergebnis war eindeutig. Die Menschen, die kein Smartphone dabei hatten, unterhielten sich intensiver, substantieller und empathischer. Das Smartphone abzuschaffen, zu entziehen, ist für Prof. Vorderer aber keine Lösung. Er setzt vielmehr darauf, dass auch die jungen Menschen immer kompetenter in der Smartphone- und Internetnutzung werden. Ihn leitet dabei die Frage: "Wo ist es wirklich sinnvoll es einzusetzen, wo wird es zur Belastung und wo ist es schlichtweg Zeitverschwendung? Kurz gesagt: Wo tut es mir wirklich gut?"
Dass sich Eltern dabei schwer tun, wie Konzentrationsschwächen und schlechtere Leistung von ihren Kindern zu beurteilen sind oder wie sie den ständigen Streit wegen der häufigen Online-Nutzung des Kindes einschätzen sollen, ist für Pruin von der Caritas nur zu verständlich. Seine beruhigende Antwort: "In den meisten Fällen sind die Kinder oder Jugendlichen ganz normal." In über 85 Prozent der Fälle stellt er in seinen Beratungen nur eine exzessive Internetnutzung fest. "Da kann man mit sehr einfachen motivierenden Methoden intervenieren."
Problematisch wird für ihn die exzessive Internetnutzung allerdings dann, wenn die betroffenen Kinder und Jugendlichen sich nichts mehr anderes als das Internet, ihre Online-Spielewelt vorstellen können, sie - das trifft vor allem für Mädchen zu - sich nur noch in ihren Online-Chaträumen bewegen wollen. Die Online-Welt werde zum Ideal stilisiert, die wirkliche Welt zum Problem. "Aber dass ihre exzessive Online-Nutzung gerade dazu führt, dass die wirkliche Welt zu ihrem Problem wird, das erkennen viele nicht." Pruin lädt bei Kindern und Jugendlichen bewusst die ganze Familie zum Gespräch ein. "Das Problem entsteht nämlich in der Familiensituation und braucht eine Lösung mit der Familie."
Pressemitteilung
Man muss genau hinschauen
Erschienen am:
24.04.2016
Herausgeber:
Caritasverband für die Diözese Augsburg e.V.
Auf dem Kreuz 41
86152 Augsburg
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