Kempten/Augsburg, im Juni.2019 (pca). Menschen mit Autismus tun sich schwer im Alltag - auch mit ihren Mitmenschen, seien es die Eltern, Geschwister, Mitschüler oder Arbeitskollegen. Was das Zusammenleben ausmacht, nämlich die ständige zwischenmenschliche Abstimmung durch Blicke, Körpersprache, die miteinander geteilte Aufmerksamkeit - all das ist bei ihnen gestört. Wie kann dann ein Mensch mit einer Autismusspektrumsstörung seine Individualität entfalten, selbstsicher werden und seine Rolle in der Gesellschaft einnehmen? Wie können Eltern ihrem autistischen Kind helfen? Antworten darauf gab der Fachtag "Autismus & Familie" in Kempten. Das Autismus Zentrum Schwaben der Lebenshilfe wie auch das Kompetenzzentrum Autismus Schwaben-Nord der Caritas hatten dazu in die Big Box in Kempten eingeladen.
Der Fachtag war gut besucht. 235 Personen hatten sich dafür angemeldet. 100 davon waren betroffene Eltern. 120 Fachberaterinnen und Fachberater, 15 waren Studenten von der Hochschule Ravensburg, die im Rahmen eines Projektes Studenten mit Autismus helfen wollen, sich besser in den Studienalltag wie auch in das spätere Berufsleben integrieren zu können.
So viel schon über Autismus und dessen Erscheinungsformen informiert wurde, eines machte Prof. Dr. Michelle Noterdaeme, Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Psychotherapie am Josefinum der Katholischen Jugendfürsorge in Augsburg, mit ihrem Eingangsvortrag sehr deutlich. Man kann offensichtlich nicht oft genug darüber sprechen, was Autismus ist und wie er sich zeigt.
"Wenn ich aber weiß, um was es geht, habe ich eine ganz andere Einstellung dazu", sagte sie. Das sei
besonders wichtig für Eltern, die nach einer entsprechenden Diagnose einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt sind. Wenn sich Kind und Eltern nicht verstehen, weil die Eltern nicht wissen, warum sich ihr Kind so verhält, wie es sich verhält, dann verunsichern sie sich nur gegenseitig, unterstrich im späteren Verlauf des Tages die Logopädin und Klinische Lerntherapeutin Maria Lell von der Logopädischen Praxisgemeinschaft Holzkirchen.
Wer Autismus hat, der hat eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. D.h. die Wahrnehmung von Reizen, Licht, Geräuschen, Berührungen, Mimik, Gestik und Sprache ist gestört. Die Folgen sind mitunter eine intellektuelle Beeinträchtigung, Sprach- und Artikulationsstörungen und damit verbunden eine Störung der sozialen Kommunikation sowie ein Mangel an zwischenmenschlicher ("sozio-emotionaler") Gegenseitigkeit. ADS und ADHS sind häufig auftretende Paralleldiagnosen. (In der Jugend könnten als Folgeerscheinungen auch ADHS und Depressionen auftreten.)
Deshalb klein beizugeben und Autismus als Schicksal hinzunehmen, dem man nichts entgegensetzen könne, dafür ist Prof. Noterdaeme nicht zu gewinnen. "Unser Ziel muss vielmehr sein, die kindliche Individualität zu fördern und sie zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu erziehen. Menschen mit Autismus können nämlich eine Rolle in der Gesellschaft übernehmen."
Damit das aber gelingen kann, bedarf es nicht nur einer frühen Diagnose. "Die Eltern wie die gesamte Familie mit den Geschwisterkindern brauchen eine ausreichende Unterstützung." Dabei gehe es weniger um finanzielle Unterstützung als um gute Beratung und Erläuterungen, was sie tun können, damit das Kind mit Autismus sich gut entwickeln kann. Dazu bedürfe es nicht nur an Kenntnissen, sondern auch an viel Geduld und Ausdauer. Da das Kind eine Entwicklung vom Klein- zum Schulkind und dann zum Jugendlichen und Erwachsenen mache, sei es erforderlich, nicht nur einmal Hilfe bereitzustellen, sondern von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Gerade das Alter zwischen 16 und 19 Jahren erweise sich als sehr schwierig. "Aber", bedauerte es Prof. Dr. Noterdaeme, "unsere Versorgungssysteme sind daraufhin noch nicht abgestimmt."
Doch wie können Eltern ihr Kind mit Autismus so fördern, dass es seine Rolle in der Gesellschaft gut übernehmen kann? Birke Opitz-Kittel, selbst Autistin und Mutter von fünf Kindern, darunter ein autistischer Junge, erzählte von ihrem Leben. Bemerkenswert war ihre frühe Erfahrung, wie wichtig es für ihr Überleben war, genau zu beobachten und daraus zu lernen, wie andere ihr Leben meistern. Von ihren eigenen Kindern wisse sie, wie wichtig es für sie ist, sich zugehörig zu fühlen, "weil ihnen zugehört wird". Sie hingegen hatte sich in ihrer Kindheit und während ihrer Jugend immer als "unsichtbar" empfunden. Deshalb habe sie ganz bewusst alles getan, um ihren autistischen Sohn zu begleiten, ihn zu unterstützen und die Hilfen zu vermitteln.
So sehr sie sich bemühte und auch letztlich Erfolg hatte (ihr Sohn studiert jetzt Philosophie und nordische Philologie), was Opitz-Kittel heute noch nach Jahren empört und aufrüttelt, ist das Mobbing und die Diskriminierung, die ihrem Sohn widerfuhren. Andere Kinder hätten ihn mit Essensresten beworfen, ihn sogar einmal die Schlinge um den Hals gelegt. Das besonders Schlimme war, dass die Eltern der anderen Kinder sich auf die Seite ihrer Kinder gestellt hatten. Vorurteile und elterlicher Egoismus, eine sture Verteidigungshaltung, Totalverweigerung, das autistische Kind nur ansatzweise verstehen zu wollen - alles trat beim Elternabend zutage. Die Vertrauenslehrerin hatte Opitz-Kittel geraten, nicht daran teilzunehmen. "Das wollen Sie nicht hören."
Eltern, die nicht nur ein autistisches Kind, sondern auch Mädchen und Jungen ohne Autismus haben, sollten bei allen Sorgen und Einsatz für ihr autistisches Kind nicht vergessen, dass die anderen Kinder auch ein Recht darauf haben, ihre Individualität zu entwickeln. Martina Verfürth erzählte beim Fachtag vor den über 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern von ihrer Kindheit und Jugend mit ihrem autistischen Bruder Dustin. "Wenn etwas schief lief, ich nichts dafür konnte, sondern Dustin daran schuld war, wurde ich geschimpft", sagte sie. Stets sei sie wie eine Erwachsene behandelt und ihr eine besondere Verantwortung für ihren Bruder übertragen worden. "Ich musste für meinen Bruder funktionieren." Bis sie 14 Jahre alt gewesen sei, habe sie sich dem Ziel ihrer Mutter untergeordnet, aus Dustin ein normales Kind zu machen. "Dann brach ich mehr und mehr aus dieser autistischen Welt aus." Ihre Kindheit sei deshalb sehr schwierig gewesen. Sie riet deshalb insbesondere den anwesenden Eltern: "Achten Sie auch auf die Gefühle der Geschwisterkinder und verlangen sie nicht ständig von ihnen, dass sie auf das behinderte Kind Rücksicht nehmen."
Menschen mit Autismus nehmen ihre Umwelt anders wahr und erleben sie deshalb auch anders. Deren neurologischen Abweichungen im Gehirn bedingen, so die Logopädin und Klinische Lerntherapeutin Lell aus Holzkirchen, dass ihr Gehirn weniger flexibler sei. Das Gehirn der Menschen ohne Autismus sei hingegen flexibler. So könnten sie - wenn sie das nur wollen und darauf achten - viel leichter auf die Menschen mit Autismus eingehen als andersherum.
Lell gab dazu einige Tipps. Die neurologischen Abweichungen bedingen eine Störung der Kommunikation auf der verbalen wie auch nonverbalen Ebene. "Und das führt dazu, dass die soziale Abstimmung gestört wird." Das Erlernen von Sprache hänge vom Schauen ab. "Hebe ich eine Tasse hoch und halte sie am Henkel, kann ein autistisches Kind meinen, "Tasse" stünde für den Henkel." Das liege darin begründet, dass das Bild Mutter-Tasse-Hand-Henkel schon eine optische Reizüberflutung darstellen könne. "Wir müssen also lernen, den Blick des Kindes so zu lenken, dass es lernen kann, was mit einem Begriff wirklich gemeint ist."
Auch einem Kind mit Autismus gingen viele Gedanken durch den Kopf. Die Reizsortierung und die Impulskontrolle sei aber gestört. Ein Kind ohne Autismus habe kein Problem zu verstehen und das zu tun, was seine Mutter will, wenn sie sagt: "Komm, wir gehen raus, zieh Deine Schuhe (ein) an und setz Dein Käppi auf." Die schnelle Aneinanderreihung von Anweisungen bringe aber ein Kind mit Autismus in eine schwierige Situation. Was soll es tun? Rausgehen? Schuhe anziehen, und wenn es das noch weiß, welche? Und was ist mit dem Käppi?
Viele Eltern verfallen Lell zufolge dann dem Fehler, mit ihrem Kind lauter zu sprechen, weil es nicht verstanden hat. Wegen der zusätzlichen Reizüberflutung ziehe sich das Kind aber verstärkt zurück. Dann nähmen Eltern darauf Rücksicht und vermieden mehr und mehr ihre Ansprache an das Kind. "Doch das vermehrt nur die Not des Kindes, das ohnehin sich einsam und ausgeschlossen fühlt", so Hell.
Eigentlich, folgt man Lell, wäre eine Lösung ganz einfach. Die Mutter nimmt bewusst Blickkontakt mit ihrem Kind auf und sagt "Wir gehen raus!", lässt sich dann etwas Zeit und fährt fort mit "Komm, ziehe Deine braunen Schuhe an." Und dann erneut zeitlich etwas versetzt "Setz Dein Käppi auf!"
Das Kind profitiere mehrfach davon. Es entstehe eine klare Kommunikation, das Kind wird nicht in eine unnötige zusätzliche Stresssituation versetzt, sondern kann alles nacheinander verarbeiten. Es werde selbstsicherer und lerne dadurch schneller und leichter Sinn und Zweck der Regeln der Sprache wie auch des sozialen Miteinanders. "Nur so können Sie die Selbständigkeit und das Selbstwertgefühl ihres autistischen Kindes fördern", unterstrich Lell. "Hören wir auf, das auffällige Verhalten autistischer Menschen als Provokation zu verstehen. Passen wir uns doch viel besser ihren anderen Möglichkeiten an."
Im letzten Vortrag erklärte Martin Fichtmair von der Beratungsstelle für Unterstützte Kommunikation der CAB Caritas Augsburg Betriebsträger gGmbH die Bedeutung von alltags- und kommunikationsunterstützenden Hilfen. Für Menschen mit Autismus können diese Hilfen Orientierung und auch dadurch Sicherheit im Alltag schenken. Zudem fördern sie das gegenseitige Verständnis. Fichtmair untermauerte dies durch anschauliche Erlebnisse aus seiner Praxiserfahrung mit Menschen mit Autismus.