Sozialraumorientierung als Impuls für gemeinsamen Weg als Kirche
Augsburg, 21.11.2019 (pca). Die Volkskirche gibt es nicht mehr. Die sozialen Strukturen, die sie getragen haben, haben sich aufgelöst. Die Vielfalt der Lebensentwürfe und der sozialen Herausforderungen wie auch Belastungen sind nahezu unüberschaubar geworden. Der Auftrag der Kirche, zu den Menschen zu gehen und sie im Leben zu begleiten, damit ihr Leben gelingt, der besteht allerdings nach wie vor. Die Caritas als Wohlfahrtsverband und die in den Pfarrgemeinden tätigen pastoralen Mitarbeiten wollen deshalb künftig stärker Hand in Hand arbeiten. So zumindest das wichtigste Ergebnis eines Impulstages zur Sozialraumorientierung und damit der Frage, wie vor Ort bei aller Vielfalt der Lebensentwürfe Kirche - also Seelsorge und Caritas - diesen Sozialraum mitgestalten können.
Die Situation heute ist stark von einer Aufgabentrennung geprägt. Seelsorge bzw. Pastoral sorgen sich um das geistliche Heil. Um Arme, Kranke, Sterbende, sozial Ausgegrenzte kümmert sich die Caritas mit ihren professionellen Diensten. Gleichzeitig führt die Vielgestaltigkeit der Lebensentwürfe und -situationen der Menschen verstärkt dazu, dass es für die Kirche insgesamt mit ihren verschiedenen Diensten - dazu gehört auch die Caritas - immer schwieriger wird, an diese Vielfalt der Lebenswelten anzuknüpffen. 28 Verantwortliche in der pastoralen Arbeit in der Diözese Augsburg und 15 Caritas-Vertreter haben sich nun zusammengesetzt, um gemeinsam einen Weg zu finden und zu definieren, wie sie sich in den Sozialraum einbringen können, um dort als Kirche präsent zu sein und den Menschen zur Seite zu stehen. Den Ansatz dazu, die Sozialraumorientierung, stellte nun der junge Sozialwissenschaftlicher Felix Manuel Nuss bei dem Impulstag im Exerzitienhaus St. Paulus in Leitershofen vor.
"Unser Ziel muss heißen, Caritas und Pastoral zusammenzubringen und die sozialen Räume in den Gemeinden in den Blick zu nehmen, um wirklich zu sehen, was die Menschen dort wollen, wie sie leben wollen und wie wir ihnen helfen können", sagte Daniel Pain, verantwortlich für die Gemeindecaritas des Augsburger Diözesan-Caritasverbandes zum Auftakt des Impulstages. Josefine Prinz, Referentin in der Abteilung "Pastorale Grunddienste und Sakramentenpastoral" der Diözese Augsburg, unterstrich die Bedeutung des Zusammentreffens: "Wir müssen zusammenarbeiten, um der Menschen, aber auch um der Lebendigkeit unserer Kirche willen."
Das Konzept der Sozialraumorientierung, so der Sozialwissenschaftler Nuss, verlange die Bereitschaft, den Fokus nicht mehr vorrangig auf die Erhaltung der Gemeinschaft in der Pfarrgemeinde zu legen, sondern "den Menschen in seiner individuellen Lebenssituation in dem sozialen Raum wahrzunehmen, in dem er lebt, und zu berücksichtigen, was er braucht und will." Die "Sozialraumorientierung" der gemeinsamen Arbeit von Caritas und Kirche vor Ort müsse deshalb - wenn sie den Menschen in seiner Vielfalt und Einzigartigkeit ernst nehmen will - "die Lebenswelten gestalten und Verhältnisse schaffen wollen, die es den Menschen dort ermöglicht, besser und selbstbestimmter in schwierigen Lebenslagen zurechtzukommen." Die Spannung des Konzeptes liege deshalb in der Frage "Unterstütze ich ein gewolltes oder ein gesolltes Leben?" begründet, zitierte Nuss den Sozialarbeitswissenschaftler und Vater des Konzepts der Sozialraumorientierung Wolfgang Hinte.
Andere sehen zu wollen, setzt voraus - und das klang in der weiteren Diskussion wiederholt an - dass man sich gegenseitig wahrnimmt und in die Überlegungen zur eigenen Arbeit mit hineinnimmt. Caritasvertreter beklagten, dass innerkirchlich zu wenig die Caritas als Teil der Kirche gesehen wird. Vertreter der Pastoral hingegen warben um Verständnis für ihre Arbeit in den Pfarrgemeinden. Der Umbruch in den Pfarreistrukturen habe leider auch dazu geführt, dass der Fokus der Pfarrgemeinden zu sehr auf das gottesdienstliche Gemeindeleben ausgerichtet war.
Beide Seiten wollen sich nun dafür einsetzen, dass klare Strukturen für einen Austausch zwischen Pfarrgemeinde, Pastoral und der Caritas geschaffen und "tragfähige Kooperationen" tatsächlich verwirklicht werden müssten. Der Austausch müsse einen festen Platz erhalten. Der langjährige Augsburger Caritas-Pfarrer und Vorstand des Caritasverbandes für die Stadt und den Landkreis Augsburg Karl Mair empfahl als Grundhaltung in der Kooperation von Pastoral und Caritas: "Es muss deutlich werden, dass es nicht um die Kirche oder um die Caritas geht, sondern dass es uns um die Menschen geht."