Doch in drei Prozent der Fälle sagt ein Arzt schon während der Schwangerschaft: "Ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie." Die Diagnose kann vielfältig sein: Ein gravierender Herzfehler, körperliche Fehlbildungen oder Chromosomenstörungen wie z.B. das Down-Syndrom. Die Reaktionen der Eltern darauf ähneln sich jedoch: "Viele sind völlig geschockt und wissen nicht mehr, wie es weitergehen soll", erzählt Brigitte Reckermann. Sie ist sofort zur Stelle, wenn Eltern im Mathias-Spital in Rheine eine solch schwerwiegende Diagnose erhalten und Beratung benötigen.
Die sofortige Beratung durch die Sozialpädagogin und Schwangerschaftsberaterin des Caritasverbandes Rheine ist vor allem durch die Nähe zum dort ansässigen Zentrum für Pränataldiagnostik möglich. Gemeinsam mit dessen Leiter Prof. Dr. Matthias Meyer-Wittkopf kümmert sie sich um Eltern, deren Kinder an schweren Krankheiten oder Behinderungen leiden oder sogar tot zur Welt kommen werden. Für Brigitte Reckermann beginnt die Arbeit meist mit einem Anruf aus dem Untersuchungszimmer von Professor Meyer-Wittkopf: "Können Sie bitte rüberkommen?" Für Reckermann ein Leichtes, schließlich ist ihr Beratungszimmer nur wenige Meter entfernt.
"Zu diesem Zeitpunkt weiß ich nicht immer genau, um welche Diagnose es geht", erklärt Reckermann. Dafür ist zunächst auch keine Zeit: Nach dem ersten Schock kommt die Trauer. Vor allem wenn klar ist, dass das Kind nicht oder nur kurz leben wird. "Wenn die Eltern hier im Beratungszimmer ein wenig zur Ruhe kommen, gibt es erst einmal viele Tränen", berichtet Reckermann. Das müsse man auch als Beraterin aushalten können. Erst danach finden sie die Kraft, gemeinsam mit ihr den Befund des Arztes durchzugehen und Fragen dazu zu stellen.
Die medizinischen Fragen kann Brigitte Reckermann natürlich nicht beantworten. "Ich kann den Eltern aber deutlich machen, welche Möglichkeiten sie in ihrer Situation haben." Denn anders als Viele zunächst annehmen, sind sie vielfältig. Deutlich vielfältiger als der Satz "So etwas ist doch heutzutage nicht mehr nötig" suggeriert. Ein Satz, der von Verwandten, Freunden und manchmal sogar von Ärzten ausgesprochen wird. Ein Satz, der Eltern unnötig unter Druck setzt, einen Schwangerschaftsabbruch allen anderen Möglichkeiten vorzuziehen.
Brigitte Reckermann hält dagegen: "Sie sollten eine Entscheidung treffen können, mit der sie als Eltern auch noch in zehn Jahren leben können." Das funktioniere aber nicht mit Druck von außen. Vielmehr müsse man den Eltern helfen, "im Dschungel der Möglichkeiten" den die deutsche Gesetzeslage bereithält, den für sie passenden Weg zu finden. Natürlich sei sie als Beraterin in einer katholischen Beratungsstelle besonders am Lebensschutz für das ungeborene Kind interessiert, stellt Reckermann klar: "Dieser Schutz geht aber nur mit der Mutter. Wir zeigen Wege auf, lassen die Entscheidung jedoch offen."
Einer der Wege im Dschungel: Selbst wenn im schlimmsten Falle feststeht, dass das Kind nicht lebensfähig ist, haben Eltern die Möglichkeit und das Recht, ihr Kind weiter auszutragen. "Solange Mutter und Kind dies wollen und können", sagt Brigitte Reckermann. Die Entscheidung dafür oder dagegen sei eine äußerst schwere und könne einige Zeit in Anspruch nehmen. Doch in der Rückschau - das weiß die Beraterin aus vielen Gesprächen - waren die im Zusammenhang mit der Beratung gefällten Entscheidungen die richtigen für die Familie.
Teil der Beratung bei einem Verlust des Kindes sei es, eine angemessene Form der Verabschiedung zu finden. "Die Eltern haben ein Recht auf einen Abschied und brauchen ihn", sagt Reckermann. Das fängt bei ganz einfachen Dingen an: "Jedes Kind soll einen Namen bekommen", nennt die Beraterin ein wichtiges Beispiel. Das mache es häufig nicht nur für die Eltern, sondern auch für eventuelle Geschwisterkinder einfacher.
Die Rechtslage macht es zudem möglich, jedes Kind zu bestatten. "Dabei spielt es keine Rolle, wie weit das Kind in seiner Entwicklung fortgeschritten ist", erklärt Reckermann. Darüber hinaus können Eltern sich für weitere sehr individuelle Formen des Abschieds entscheiden, bei denen der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind. "Manche pflanzen in Erinnerung an ihr Kind einen Baum, andere lassen sich eine Tätowierung stechen", zählt Reckermann zwei Beispiele auf. Wie bei allen Entscheidungen im Rahmen der Beratung steht der Elternwille im Mittelpunkt. Entscheiden sie sich für ein Leben mit einem Kind, das krank oder behindert sein wird, erhalten sie Hilfe und Unterstützung bei allen anstehenden Fragen und Sorgen.
Diese schweren Entscheidungen betreffen weniger als drei Prozent aller Eltern. Es könne dennoch für alle Eltern ein Gewinn sein, wenn Gynäkologen und Beratungsstellen ihre Zusammenarbeit intensivieren, glaubt Brigitte Reckermann. "Wenn Eltern sich frühzeitig mit einem negativen Verlauf einer Schwangerschaft und dessen Folgen auseinander setzen können, bleibt mehr Zeit zum Nachdenken über eine Entscheidung." Eine Entscheidung, zu der man auch in zehn Jahren noch stehen kann.
077-2015 (jks) 24. Juli 2015