Augsburg/Lindau, 18.12.2020 (pca) Alkoholismus, Drogensucht oder Spielsucht. Eine Sucht ist eine Krankheit, völlig egal wann. Doch besonders schwierig dürfte es für die meisten Suchtkranken an den Weihnachts- und Silvester-Feiertagen werden. Wenn alle anderen Menschen in Feier-Laune sind, drehen sich die Gedanken von suchtkranken Menschen oftmals um etwas ganz anderes. Klaus Bilgeri, Sozialpädagoge beim Caritasverband Augsburg e. V. und Leiter der Suchtfachambulanz der Caritas in Lindau, befürchtet, dass das Corona-Weihnachtsfest für Suchtkranke dieses Jahr eine besonders große Herausforderung werden dürfte. Im Interview erklärt er, welche Strapazen die Weihnachtsfeiertage für suchtkranke Menschen sein können und wie man mit ihnen in der Familie umgeht.
Karin Pill: Welche Probleme und Herausforderungen stellen sich Suchtkranken an den Weihnachtsfeiertagen?
Klaus Bilgeri: Menschen mit Alkohol- oder Drogensucht können an Weihnachten leicht vereinsamen. Nicht nur im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie. Der soziale Rückzug ist auch eine Folgeerscheinung einer Suchtkrankheit. Die Suchtkranken erleben oft vermehrten Kontrollverlust oder verhalten sich anders als Nicht-Suchtkranke. Die Ausgrenzung und Stigmatisierung, die mit der Sucht einher geht, verschärft die negative Situation für die Betroffenen. Dann kommt es zu einer Abwärtsspirale. Denn die Suchtkranken verharren dann massiv in ihrer Sucht, sie trinken oder konsumieren weiter, weil die Situation - zumindest für den Moment - besser wird. Doch der berauschte Zustand führt erst recht dazu, dass man sich in der Sucht verliert.
K.P.: In den letzten Wochen waren vermehrt Werbeplakate zu sehen, die dafür werben, dass hochprozentige Schnäpse auch in Pandemie-Zeiten Freunde sind, die einen nicht alleine lassen. Wie wirken solche Werbungen auf Alkoholiker?
K.B.: Provozierend. Aus Studien weiß man, dass solche Plakate Auslöser für Rückfälle sein können. Der Alkoholiker oder die Alkoholikerin erlebt hier immer wieder einen Konflikt, auch wenn er oder sie sich noch so bemüht. In Deutschland gibt es schließlich nicht einmal eine Sportschau ohne eine Bierwerbung. Ständig müssen Suchtkranke widerstehen. Ein weiteres Problem ist, dass Suchtkrankheiten ein Randphänomen in Deutschland fristen. Für die Gesellschaft sind Suchtkranke nicht krank, sondern sie sind zu schwach, zu blöd oder hätten, so denken manche, einen schlechten Charakter. Automatisch steigen dann die Hemmungen, wenn man zu Kollegen, Freunden oder Vereinsmitgliedern sagen muss, dass man Alkoholiker ist, und deshalb nichts trinken möchte.
K.P.: Alkoholsucht ist dennoch weit verbreitet in Deutschland. Gerade in den Feiertagen kann man da mit Verwandten zusammenkommen, die ein Alkoholproblem haben. Wie soll man am besten mit ihnen umgehen?
K.B.: Die meisten Alkoholiker aus meinen Gruppen würden sagen: "Wir wollen, dass man uns normal behandelt!" Sie wollen nicht, dass Familienmitglieder oder Menschen, mit denen man zusammen sitzt, sich einschränken. Vielmehr sollten sie ihr Leben genießen und - wenn sie Alkohol trinken - diesen maßvoll genießen. Menschen mit Alkoholsucht können auch meistens damit umgehen, dass Alkoholika am Tisch stehen. Nur darf man sie dann nicht provozieren oder zu ihnen sagen: "Komm, trink doch was. Ist doch nur ein Schluck." Viel besser ist es da, wenn sie in die Gruppe mit einbezogen werden und zum Beispiel mit einem Orangensaft anstoßen.
K.P.: Weihnachten steht vor der Türe, dieses Jahr ein außergewöhnliches, eingeschränktes Fest. Was können Menschen mit Suchtproblemen jetzt noch tun, um dem Rausch oder der Einsamkeit zu entrinnen?
K.B.: Die Chance, etwas zu ändern, ist jeden Tag gegeben! Unsere Beratungsstelle in Lindau ist auch zwischen den Jahren geöffnet. Telefonkontakt ist daher jeden Tag möglich. Dann vergeben wir auch Termine. Mit einer Wartezeit von ein bis zwei Tagen ist da jedoch schon zu rechnen. In Extremfällen können wir dann auch noch einen körperlichen Entzug im Krankenhaus initiieren, wobei hier natürlich auch mit Wartezeiten zu rechnen ist. Aber davon abgesehen, bieten wir auch einen sehr niedrigschwelligen Kontakt und neben der Telefonseelsorge können wir auch Hausbesuche anbieten. Außerdem möchte ich noch hinzufügen, dass ganz unabhängig von Weihnachten oder Silvester der Wert und die Bedeutung Beratungsstellen viel zu gering eingeschätzt wird. Der Ruf nach Psychotherapien ist immer groß. Aber wir in den Beratungs- und Behandlungsstellen können vor allem in Krisen definitiv eine vergleichbare Arbeit leisten.