Sozialraumorientierung als Impuls für gemeinsamen Weg als Kirche
Augsburg, 29.11.2019 (pca). In Gemeinschaft den Glauben zu leben und den Nächsten zu lieben, das gehört zum Kernbestand des christlichen Glaubens. Pfarrgemeinde und Caritas sind - so die offizielle Lehre der Kirche - deshalb keine eigenständigen Ausdrucksformen des Glaubens oder gar voneinander getrennte Organisationsformen. Sie gehören zusammen. Gott ist die Liebe, ist Caritas, hatte ja der frühere Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika ‚Deus Caritas est‘ geschrieben. Und dennoch arbeiten die "Pastoral", die für die "Seelsorge" Verantwortlichen in den Pfarrgemeinden getrennt von der "Caritas" als wohlfahrtsverbandliche Organisation - auf eigenen Wegen und mit eigenen Zielen.
Als es die Volkskirche noch gab, Kirche in den Gemeinden noch selbstverständlich war, die Sozialstrukturen in den Gemeinden fest gefügt waren, die Menschen in den Gemeinden gleichsam automatisch ihren Platz fanden, die Dienste der Caritas keineswegs so professionalisiert waren wie heute, waren die organisatorisch getrennten Wege von Seelsorge und Caritas weniger spürbar. Doch diese Zeiten sind endgültig vorbei. Die Volkskirche gibt es nicht mehr, soziale Strukturen lösen sich auf, die Vielfalt der Lebensentwürfe ist nahezu unüberschaubar geworden.
Der Auftrag der Kirche, zu den Menschen zu gehen, ist damit aber nicht aufgehoben. Der Auftrag, Menschen in Not zur Seite zu stehen, bleibt ebenfalls bestehen, auch wenn die Menschen nicht der Kirche angehören. Wenn auch die Caritas als Wohlfahrtsverband jedem Menschen unabhängig von seiner nationalen, sozialen oder religiösen Herkunft hilft, so bleibt sie der Wohlfahrtsverband der katholischen Kirche. Kirche und Caritas müssen deshalb ihr Miteinander in den Pfarrgemeinden wohl neu definieren, strukturieren und organisieren. Einen entscheidenden und wohl auch wegweisenden Ansatz dazu - d.h. wenn Seelsorge und Caritas gemeinsam als Kirche vorrangig den Menschen in den Blick nehmen wollen - ist die "Sozialraumorientierung".
Wie "Kooperationsperspektiven" für den sozialen Raum aussehen könnten, was dabei zu bedenken ist und wie man künftig zusammen arbeiten könnte, damit setzten sich nun 28 Frauen und Männer aus dem Bereich der Pastoral und 15 Vertreterinnen und Vertreter der verbandlichen Caritas bei einem Impulstag auseinander. "Unser Ziel muss heißen, Caritas und Pastoral zusammenzubringen und die sozialen Räume in den Gemeinden in den Blick zu nehmen, um wirklich zu sehen, was die Menschen dort wollen, wie sie leben wollen und wie wir ihnen helfen können", sagte Daniel Pain, verantwortlich für die Gemeindecaritas des Augsburger Diözesan-Caritasverbandes, zum Auftakt des Impulstages in Leitershofen. "Wir müssen miteinander ins Gespräch kommen."
Die Grundlagen dafür scheinen gelegt zu sein. Die Verantwortlichen des Caritasverbandes für die Diözese Augsburg e. V. hatten sich mit den Abteilungen Personal-, Organisations- und Pastoralentwicklung und Pastorale Grunddienste und Sakramentenpastoral des Bistums Augsburg zusammengesetzt und die Tagung vorbereitet. Josefine Prinz, Referentin in der Abteilung "Pastorale Grunddienste und Sakramentenpastoral" der Diözese Augsburg, unterstrich die Bedeutung des Zusammentreffens: "Wir müssen zusammenarbeiten, um der Menschen, aber auch um der Lebendigkeit unserer Kirche willen."
Dass es nicht so einfach ist und man ein klares Konzept für eine Zusammenarbeit vor Ort haben muss, dass machte der junge Wissenschaftler der Sozialen Arbeit Felix Manuel Nuss in seinem Impulsvortrag deutlich. Wenn die Mitarbeitenden in der pastoralen Arbeit und der Caritas den Menschen in den Blick nehmen wollten, "muss man den Menschen in seiner individuellen Lebenssituation in dem sozialen Raum wahrnehmen, in dem er lebt, und berücksichtigen, was er braucht und will."
Die "Sozialraumorientierung" der gemeinsamen Arbeit von Caritas und Kirche vor Ort müsse deshalb - wenn sie den Menschen in seiner Vielfalt und Einzigartigkeit ernst nehmen will - "die Lebenswelten gestalten und Verhältnisse schaffen wollen, die es den Menschen dort ermöglicht, besser und selbstbestimmter in schwierigen Lebenslagen zurechtzukommen." Damit wies Nuss auf ein Kernmerkmal der Sozialraumorientierung hin. "Sie ist keineswegs nur raumbezogen, sie ist hochgradig personenbezogen." Und weiter sagte er: "Es gibt so viele Sozialräume, wie viele Menschen es in einer Pfarrgemeinde gibt." Deshalb komme es auch darauf, wirkliches Interesse an den Beziehungen der Menschen untereinander, der Interaktionen und sozialen Verhältnisse zu beweisen. Und weil es ohnehin nicht einfach zu sein scheint, diesem Prinzip der Sozialraumorientierung gerecht zu werden, setzte Nuss noch eins drauf. "Es darf nicht darum gehen, Aufgaben zu normalisieren. Es gilt die Räume zu schaffen, in denen sich Potentiale entwickeln können. Es geht nicht darum, mit einer pädagogischen Absicht Menschen zu verändern, sondern darum, unter tätiger Mitwirkung der Menschen ihre Lebenswelten zu gestalten." Die Spannung des Konzeptes liege deshalb in der Frage "Unterstütze ich ein gewolltes oder ein gesolltes Leben?" begründet, zitierte Nuss den Sozialarbeitswissenschaftler und Vater des Konzepts der Sozialraumorientierung Wolfgang Hinte.
Dr. Ulrich Hörwick, Leiter der Stabsstelle "Errichtung/Entwicklung von Pfarreiengemeinschaften", entdeckte in diesem Konzept letztlich eine alt bekannte Aufgabe der Pastoral der Kirche wie auch der Caritas, nämlich die, sich die Frage zu stellen "Was wünscht sich mein Gegenüber?" Dazu galt es, erste konkrete Handlungsansätze zu entwickeln. In vier Workshops, um Schnittmengen und Perspektiven für eine "kooperative Zusammenarbeit" von Pastoral und Caritas gestaltet werden könne.
Anne Strahl von der Pfarreiengemeinschaft Neuburg erzählte davon, wie sich die Pfarreiengemeinschaft zusammen mit dem Caritasverband Neuburg-Schrobenhausen zusammentat, um dem Wunsch von Asylbewerbern gerecht zu werden, mit Deutschen die erworbenen Sprachkenntnisse zu vertiefen. "Da ist eine bunte Truppe entstanden." Thomas Seibert von der Pfarreiengemeinschaft Göggingen-Inningen erinnerte an die anfänglichen Widerstände und Ängste gegen die Flüchtlingsunterkunft der Caritas. "Jetzt läuft alles sehr gut. Die Flüchtlinge dort sind in der Nachbarschaft sehr gut angenommen." Dass es heute so ist, führt Seibert auf die Fähigkeit und Bereitschaft zurück, Kontroversen auszuhalten, in Diskussionen zu moderieren und sie zu gestalten. Für Branko Schäpers, Geschäftsführer des Caritasverbandes für den Landkreis Donau-Ries e. V.; liegt oft das Problem darin, "dass alle zwar das Selbe wollten, sie aber unterschiedliche Wege dorthin beschreiben wollen. Und das ist manchmal schwierig zusammenzubringen."
Der weitere Austausch machte sehr schnell deutlich, dass es nicht nur um die Kooperation zwischen der Pastoral in den Pfarrgemeinden und der Caritas geht. Bei den Projekten komme es, so Ursula Böck vom Caritasverband Kempten-Oberallgäu e. V., darauf an, auch die Ämter, Behörden oder mögliche Sponsoren für Projekte in den Blick zu nehmen. "Das Jonglieren gehört hier dazu." Man dürfe auch nicht aus dem Blickwinkel der Hauptamtlichen ein Projekt gestalten. "Wir müssen Hauptamt und Ehrenamt zusammen denken und die beteiligten Partner ständig miteinander verknüpfen." Und gleichzeitig müsse man dabei bedenken, "dass die Menschen nicht verwaltet werden wollen. Sie wollen gesehen werden."
Andere sehen zu wollen, setzt voraus - und das klang in der weiteren Diskussion wiederholt an - dass man sich gegenseitig wahrnimmt und in die Überlegungen zur eigenen Arbeit mit hinein nimmt. Was hat es auf sich, wenn Vertreter der Caritas immer wieder davon sprechen, "dass nicht allen in der Kirche bewusst ist, dass die Caritas Teil der Kirche ist? Wie kann es sein, dass man sich innerkirchlich erklären müsse, ob man mit dem, was man tut, der Kirche angehört, während Externe die Caritas eindeutig der Kirche zuordnen? Wie stehen die Pfarrgemeinden zur Caritas? Welche Rolle spielt die Caritas auch als ureigene Aufgabe der Pfarrgemeinde in der Gemeindeentwicklung und Zusammenführung von Pfarrgemeinden zu Pfarreiengemeinschaften? Konzentrieren sich die Pfarrgemeinden sich zu sehr auf die Lebenswelten der Gottesdienstbesucher, so dass Arme nicht mehr gesehen werden? Sieht man die Caritas nur als professionell-fachlichen Sonderdienst für soziale Probleme und Fragen, dem man zwar vertraut, aber auch dazu verleitet, die gemeinsame Sendung zu den "Armen" an diesen "Sonderdienstleister" abzukoppeln?
Insbesondere letzte Frage beschäftigte die Geschäftsführer der regionalen Caritasverbände im Bistum Augsburg - Monika Funk aus den Landkreis Weilheim-Schongau, Mathias Abel aus der Region Günzburg und Neu-Ulm, Franz Gast aus dem Landkreis Ostallgäu und Hans-Peter Wilk aus dem Landkreis Neuburg-Schrobenhausen. Sie legten in ihren kritischen Beiträgen wiederholt den Finger in die Wunde der Zusammenarbeit. "Nimmt man uns denn wahr, und wenn ja wie?" Sie ließen dabei keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Caritas ohne die Kirche nicht Caritas sei.
Dr. Robert Ochs, zuständig für die Personal-, Organisations- und Pastoralentwicklung, und Thomas Stark von der "Gemeindeentwicklung" in Mindelheim, gestanden ein, dass von Seiten der Pastoral Nachholbedarf in der Zusammenarbeit besteht. Sie setzten sich in der Diskussion dafür ein, klare Strukturen für einen Austausch zwischen Pfarrgemeinde, Pastoral und der Caritas zu schaffen. "Wir müssen schauen, dass der Austausch formeller wird." Dem stimmte Wilk ausdrücklich zu. "Wir brauchen diese Strukturen, um tragfähige Kooperationen verwirklichen zu können."
Der langjährige Augsburger Caritas-Pfarrer und Vorstand des Caritasverbandes für die Stadt und den Landkreis Augsburg Karl Mair empfahl deshalb den Verantwortlichen für Pastoral in der Kirche bzw. den Pfarrgemeinden, die Kooperation mit der Caritas zu suchen." Das Miteinander ist so wichtig. Wir brauchen den wertschätzenden Blick füreinander!" Welche Grundhaltung in der Kooperation letztlich entscheidend ist, um bei den Menschen "anzukommen", fasste der Caritas-Pfarrer Mair mit seiner klaren Botschaft zusammen: "Es muss deutlich werden, dass es nicht um die Kirche oder um die Caritas geht, sondern dass es uns um die Menschen geht."