Caritas-Projekt stärkt Menschen mit Behinderungen im Kampf für mehr Gerechtigkeit
Augsburg, 05.10.2022 (pca). Menschen mit Behinderungen werden vielfach benachteiligt. Auch in der Rechtsprechung. Sozialrechtlich ist die Bundesrepublik Deutschland gut aufgestellt. Doch insbesondere bei Menschen mit Behinderungen gibt es Nachholbedarf bei der Umsetzung, so die Fachleute der Caritas. Der Grund: Der Druck, das Sozialrechtdurchzusetzen ist zu gering. Betroffene haben nicht das Wissen und die Kraft dazu, einen langwierigen Rechtsstreit einzugehen. Und wo wenig juristisch gestritten wird, da verengt sich das Fachwissen auf nur wenige. Rechtsanwälten fehlt zudem oft das Verständnis für die Lebenswirklichkeit der Menschen mit Behinderung. Damit wollte sich der Diözesan-Caritasverband Augsburg nicht zufriedengeben. Roland Rosenow, freier Referent und Spezialist für Sozialrecht und Sozialpolitik, forderte nun in Augsburg sogar: "Wir müssen die Friedhofsruhe im Sozialrecht in Deutschland aufbrechen!"
"Wenn wir diese faktische rechtliche Benachteiligung nicht hinnehmen wollen, müssen wir die betreffenden Personenkreise zusammenbringen, deren Wissen vertiefen und die Beteiligten jeweils auf ihrer Ebene befähigen", so Peter Hell, Leiter des Caritas-Referates Teilhabe und Pflege und Initiator des Projektes "Sozialrechtliche Mobilisierung und Befähigung". Anja Alexandersson, Leiterin des Referates Teilhabe und Gesundheit des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg, beklagte in ihrem Grußwort mehr als deutlich, dass die Wahrnehmungen der Wirklichkeit in Berlin, in den Ministerien, und die Wirklichkeit von Menschen mit Behinderungen weit auseinanderklaffen. Nach dreieinhalb Jahren kam nun das Projekt nach vielen Arbeitsrunden im Rahmen eines Fachtags zu einem Abschluss. Möglich war es geworden durch die großzügige Förderung durch den Bischöflichen Fonds der Diözese Augsburg.
Regina Sproll von der Offenen Behindertenarbeit der Regens-Wagner-Einrichtungen in Memmingen, erzählte davon, "wie es bei ihr Klick machte" und sie auf einmal verstand, warum Klagen für Menschen mit Behinderungen vor Gericht scheitern. Eine von ihr betreute Person wollte ihren Betreuer wechseln. Doch der Kostenträger wie auch das Gericht lehnten dies mehrfach ab. Sproll hatte auf das "Recht auf Selbstbestimmung" ihres Klienten gepocht. Sproll, die im Teilprojekt Sozialrechtliche Mobilisierung zusammen mit Rechtsanwälten zusammenarbeitete, erfuhr dann dort, warum das Scheitern mit ihrem Argument vorprogrammiert war. "Mein Klient sollte nicht auf das Selbstbestimmungsrecht pochen, sondern konkrete Gründe nennen, warum er den Betreuer wechseln wollte. Und als wir das taten, hatten wir letztlich jetzt auch Erfolg. Es wird einen Betreuerwechsel geben."
Auch die acht Rechtsanwälte, die sich von Anfang an im Projekt beteiligten, lernten dazu. "Ich habe eine ganz andere Sichtweise erlernt", sagte Daniel Zeeb. Seine Berufskollegin Ariane Krause, Fachanwältin für Sozialrecht in Augsburg, gewann "Einblicke in die täglichen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen, so dass ich gezielter nachfragen kann und auch für mich leichter verständlich wird, um was es wirklich geht". Für sie eine entscheidende Voraussetzung dafür, deren tatsächlichen Probleme in ihre juristische Arbeit gut übersetzen zu können.
Juristische Probleme und Benachteiligungen für Menschen mit Behinderungen entstehen auf dem Weg der Ermittlung der Bedarfe, der Erstellung des Hilfeplanes und des Gesamtplanes. Der Mensch mit Behinderung, der Leistungsbringer wie auch der Kostenträger stehen dadurch in einem juristischen Dreiecksverhältnis. Doch wo setzt man juristisch in diesem Dreiecksverhältnis an, wenn die Leistungen nicht den tatsächlichen Bedarfen entsprechen? Rosenow hat die komplexen juristischen Zusammenhänge in einem Workshop gesondert aufgezeigt. Er machte den anwesenden Juristen dabei Mut: "Klagen Sie, denn das Bundessozialgericht selbst ist derzeit dahinter her, dass das Sozialrecht in Deutschland Schritt für Schritt tatsächlich umgesetzt wird."
Besonderen Mut brauchen aber immer noch und vor allem Menschen mit Behinderungen. Da fangen die Probleme schon viel früher an. Martina Bertsch aus Lautrach wie auch Robert Stegner aus Rennertshofen beklagten "so viel Unwissen über uns als Menschen mit Behinderungen". Irene Kubisch erzählte davon, wie sie nicht nur ausgegrenzt, sondern auch in den Bauch geschlagen wurde, damit sie verstehe, dass sie nicht dazugehören dürfe. Stegner hörte vor Jahren die Klagen, "jetzt bekommen wir all die Flüchtlinge und haben die Menschen mit psychischen Behinderungen auch noch".
Stegner gehört jedoch eher zu den Mutigen. Er wandte sich an seinen Bürgermeister und sagte ihm, "dass das so nicht geht". Als er sich entschied im Theaterverein mitzumachen, klärte er den Vorstand zuerst einmal auf, was zum Beispiel "eine psychische Behinderung ist und bedeutet". Für sie beide wie auch für Andreas Riegger, alle im Ehrenamt Bewohnervertreter in besonderen Wohnformen für Menschen mit Behinderungen, ist der Austausch im Projekt mit so vielen anderen so wichtig. "Was machen die anderen, wie geht es den anderen. Das tut mir gut zu wissen, weil ich ja meinen Mitbewohnern gut helfen können will, wenn sie zu mir kommen", sagte Riegger.
Bei Behörden tun sich ganz andere Schwierigkeiten auf. Sie können sehr hartnäckig sein, wenn sie etwas abgelehnt haben, Betroffene sich aber gegen diesen negativen Bescheid wehren, wie Betroffene berichteten. Da werde oft angerufen, wiederholt daran appelliert, vom Widerspruch zurückzutreten. "Das hat mich richtig krankgemacht", erzählte Maria Hütter-Songailo, selbst behindert aus ihren Erfahrungen. Doch sie weiß, was ihr an Rechten zusteht. Hütter-Songailo ist Prüferin für Leichte Sprache. Sie weiß um deren Vorteil: "Wir wissen erst, welche Rechte wir haben, wenn wir sie verstehen." Sie plädierte deshalb an dem Fachtag gemeinsam mit Christine Borucker, Leiterin des Fach-Zentrums für Leichte Sprache der CAB Caritas Augsburg Betriebsträger gGmbH in Augsburg, dafür, diese Sprachform verstärkt zu nutzen. Wer mehr verstehe, wisse auch, "dass wir Rechte haben und wir nicht darum bitten müssen", so Hütter-Songailo.
Das Projekt, das mit einem inklusiven, bunten und vielfältigen Fachtag jetzt in Augsburg zu Ende ging, bedeutet aber nicht das Ende der im Projekt entstandenen Netzwerke zwischen den Anwälten und der Offenen Behindertenarbeit sowie zwischen den Bewohnervertreter*innen. "Wir werden sie beibehalten, ausbauen und die Arbeit fortsetzen, damit die Menschen niedrigschwelliger zu ihrem Recht kommen und selbst für ihre Rechte einstehen können." erklärten Verena Rauch, Projektleiterin, und Kathrin Schulan, Projektkoordinatorin im Namen des Augsburger Diözesan-Caritasverbandes. Nur so könnten alle Projekt-Teilnehmer*innen dauerhaft und wirklich "Systemveränderer" werden, wie es Diözesan-Caritasdirektor Domkapitular Dr. Andreas Magg in seinem Grußwort gesagt hatte. Anja Alexandersson vom Deutschen Caritasverband ermutigte deshalb die Teilnehmer*innen des Projektes "Sozialrechtliche Mobilisierung und Befähigung", "weiterzumachen, andere zu ermutigen und nicht aufzuhören, für die richtige Sache auch vor Gericht zu streiten".