Wie sollte bzw. soll Deutschland es schaffen, so viele Ausländer, ob Asylbewerber oder Flüchtlinge und deren Angehörige in vernünftiger Weise zu integrieren? Waren diese Ängste realistisch?
Fragt man Claudia Schober, die beim Caritasverband für die Diözese Augsburg die Migrationsberatung
leitet, erhält man eine klare Antwort: "Nein. Erstens wissen wir heute, dass die befürchtete Zahl nicht erreicht wurde. Und zweitens ist der Familiennachzug derart kompliziert und langwierig, dass wir keinen unerwarteten und plötzlichen großen Zustrom an Menschen erwarten dürfen."
Seine Familie bei sich zu haben, ist ein Grundrecht, nicht nur des Deutschen, sondern jedes Menschen. Auch wer nach der Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtling anerkannt ist, darf seine Kernfamilie, d.h. den Ehegatten und minderjährige Kinder nachholen. So die Rechtslage in Deutschland. Dieses Recht galt lange Zeit ohne Einschränkungen auch für den Großteil aller Syrer, die vor Ende 2015 nach Deutschland kamen. Seit Jahresanfang erhalten Flüchtlinge zunehmend "nur" einen subsidiären Schutz. Damit geht eine Wartezeit von 2 Jahren einher, bevor sie ihre Kernfamilien nach Deutschland holen können. Das Verfahren selbst ist auch derart kompliziert und umständlich gestaltet, dass es besonderer Ausdauer und glücklicher Umstände bedarf, damit der Familiennachzug gelingt. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Migrationsberatung ist das eine "mühsame Angelegenheit", so Schober.
Es hört sich zunächst alles einfach an. Man müsse zur Deutschen Botschaft, dort alle nötigen Papiere vorliegen. Und wenn das der Fall ist, wird alles geprüft. Doch die deutsche Botschaft in der syrischen Hauptstadt Damaskus ist schon seit Jahren wegen des Bürgerkrieges geschlossen. In Beirut im Libanon und in Ankara, der Hauptstadt der Türkei, befinden sich für Syrer die nächstliegenden deutschen Botschaften. Der Weg dorthin ist nicht einfach. Für Familienangehörige, die noch in Syrien, in den Flüchtlingslagern im Libanon oder der Türkei leben, ist der Weg dorthin beschwerlich, schwierig bis kaum zu organisieren und nicht billig.
Damit der Nachzug der Familienangehörigen möglich wird, sind formale Bedingungen erforderlich. Dazu gehört die Vorlage von Pässen. Doch viele Familienangehörige der Syrer haben keine. Wenn auch die syrische Vertretung z. B. in Istanbul Pässe ausstellen kann, so kosten sie doch sehr viel Geld. Nicht jeder kann es sich leisten, für alle Familienmitglieder das Geld dafür aufzubringen. Auch einen Termin zu erhalten, ist alles andere als einfach. Die Botschaft in Ankara vergibt z.B. Termine über eine Agentur. Hat man einen Termin in der deutschen Botschaft erhalten, ist nicht automatisch garantiert, dass man ihn wahrnehmen kann, sind doch die Wege dorthin weit und zuweilen recht unsicher. Hat man den Termin dennoch einhalten können, verfügt aber nicht über alle Dokumente, darf man wieder von vorne anfangen. Um dieses Problem zu vermeiden sind die drei Dienststellen der International Organisation for Migration (IOM) in Istanbul und Gaziantep in der Türkei sowie in Beirut seit Juni 2016 zwischengeschaltet. Sie sollen die Vollständigkeit der geforderten Dokumente prüfen.
Inzwischen gibt es zudem ein Online-Portal. Dort kann man alle Dokumente hochladen und online um einen "Visa-Vergabetermin" für eine Prüfung der Unterlagen und ein Gespräch bitten. Doch wer meint, damit würde alles beschleunigt, irrt. Bis zu 12 Monaten kann das Warten dauern, bis man überhaupt eine Antwort erhält. "Dieses Gefühl völliger Unsicherheit ist alles andere als angenehm", sagt Schober.
Erfahren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Migrationsberatung der Caritas von dem Anliegen eines Flüchtlings, seine Familie nachholen zu wollen, greifen sie den Betreffenden zuweilen unter die Arme. Sie versuchen selbst hinterher zu telefonieren. Oder sie beraten die Klienten so, dass sie falls möglich sich um alles selber kümmern können. "Manchmal unterstützen auch Ehrenamtliche sie bei ihren Bemühungen", weiß Schober.
Entscheidend ist wie bei vielen amtlichen Erledigungen auch, dass die gesetzlich vorgeschriebene Frist eingehalten werden kann. Wird ein Flüchtling anerkannt, hat er bis zu drei Monaten Zeit sich um den Familiennachzug zu kümmern, will er die für Flüchtlinge geltenden begünstigenden Bedingungen erhalten. D.h. der Flüchtling muss nicht nachweisen, ob er genügend Geld für sich und seine Familie verdient, eine Wohnung hat und einen Nachweis vorweisen kann, dass er die deutsche Sprache ausreichend spricht und versteht. Entscheidet sich die deutsche Botschaft dann überraschend schnell zugunsten des Familiennachzugs, kann es sein, dass die Familie auf einmal vor der Tür steht. Die Folge: Die Familie ist obdachlos. Das bringt zuweilen alle Beteiligten zum Rotieren und erfordert von den Kommunen ein besonderes Lösungsgeschick.
All diese Probleme sind formaler Natur. Schober und ihren Kolleginnen und Kollegen von der Migrationsberatung haben es aber nicht nur mit rechtlichen bzw. verwaltungstechnischen Problemen zu tun. "Jedes Mal sitzen die unterschiedlichsten Menschen vor uns, die ganz unterschiedlich mit der Trennung von ihrer Familie umgehen." Die einen verzweifeln, die anderen blühen auf, weil sie nicht mehr vom engen Korsett ihrer traditionalistisch gesinnten Heimatgesellschaft eingefangen werden, manchmal bemüht sich jemand um den Nachzug seiner Zweitfrau, tut es aber nicht mit aller Energie. Andere leiden unter der Trennung, zumal ihre Frauen den vorausgeflüchteten Männern vorwerfen, nichts für ihren Nachzug zu tun. "Und wenn sie endlich wieder zusammen sind, vermögen manche nicht wieder zusammenzufinden, nachdem sie beide so viel Unterschiedliches an Schrecken auf ihrer Flucht erlaubt hatten." Schober aber hat auch schon erlebt, dass aus dem "nettesten" Syrer wieder ein Macho wird, wie er es zuhause in Syrien war, wenn seine Frau wieder bei ihm ist.
Für Schober wäre es deshalb wichtig, dafür Sorge zu tragen, dass die Partnerschaften, die Ehen sowie die Familien hier bei uns nicht auseinanderbrechen. Dafür ist es in ihren Augen wichtig, alle über unsere Rechtsvorstellungen, die sich daraus ableitenden Rechte aber auch Pflichten, über die Gepflogenheiten in der deutschen Gesellschaft über und Verfahrenswege zu informieren und aufzuklären. "Hier kommt neben Empathie und Vernunft die viel umworbene interkulturelle Kompetenz zum Einsatz, zu der das Aushalten können von ‚anders sein‘ genauso dazu gehört wie das Setzen klarer Grenzen", unterstreicht Schober. Es gelte überlegt zu handeln und sich ernsthafte Konzepte gemeinsam mit den Migrantinnen und Migranten zu überlegen, wie ein Zusammenleben gestaltet werden und auch gelingen kann. Die Migrationsberaterin der Caritas räumt allerdings auch ein, dass eine erlaubte Trennung ohne von einer Gesellschaft verachtet zu werden auch ein wertvoller Neuanfang sein kann, um sich hier integrieren zu können. Auch dies müsse vermittelt werden.
"Darum sollten wir uns mehr kümmern, und uns nicht von einer diffusen Angst treiben lassen." Schober hat auch keine Angst davor, dass zu viele Menschen in Deutschland bleiben könnten: "Viele sagen uns in der Beratung: Der Zeitpunkt für unsere Rückkehr wird kommen."