Caritas lud zur Fortbildung und Austausch für Berater und Trauma-Opfer des Hochwassers ein - "Es ist super hier darüber reden zu können"
Günzburg, 29.11.2024 (pca). Das Hochwasser liegt nun bald ein halbes Jahr zurück. Im Bewusstsein der Mehrheit der Bevölkerung der Stadt wie auch des Landkreises liegt es weit zurück, "es ist weg aus dem Alltag". "Doch viele haben immer noch damit zu kämpfen." So der Geschäftsführer des Caritasverbandes für den Landkreis Günzburg und Neu-Ulm, Mathias Abel. Wolfgang Mohr, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Augsburger Diözesan-Caritasverbandes in Günzburg, beobachtet, dass sich nun Menschen bei ihnen melden, "die ihre Häuser jetzt wieder repariert, den neuen Putz angebracht, die Farbe aufgetragen und nun auf einmal Zeit haben, nachzudenken und nachzuspüren, was passiert ist." Ungeschehen könne man das Hochwasser nicht, "aber wir können damit gut umgehen". Beide hatten unter der Federführung des Caritasverbandes vor Ort zu einem Fach- und Fortbildungstag für Fachberater*innen und Betroffene zum Thema "Hochwasser - Wo bleibt die Seele?" in den Festsaal des Bezirkskrankenhauses Günzburg eingeladen. "Wir alle brauchen Handwerkszeug, damit wir damit gut umgehen können", so Mohr. Über 80 Fachkolleg*innen nahmen den Fachtag am Vormittag wahr, rund 40 Betroffene wollten am Nachmittag hören, wie ihnen in ihrer Notlage geholfen werden kann.
Betroffene erzählten am Nachmittag, dass sie immer noch nicht die Bilder aus ihren Kopf kriegen. Ein junger Mann sprach darüber, wie er jede Nacht mit einem Alptraum aufwache, in dem er völlig hilflos den zerstörerischen Wassermassen gegenüberstehe. Eine Günzburgerin klagte über die Verständnislosigkeit ihrer Umwelt. "Wie kann ich klarmachen, dass ich berechtigt bin, dass es mir schlecht geht? Wie soll ich damit umgehen?" Nicht nur sie vermisste das Verständnis dafür in ihrer Familie und unter Freunden. "Es interessiert niemanden mehr." "Ich fühle mich vergessen." So eine weitere Stimme. Ein älterer Bürger hat sein Vertrauen in seine Nachbarn verloren." Er stört sich nicht an dem Ereignis des Hochwassers, "aber meine Nachbarn halfen mir nicht." Die Gelegenheit, "endlich" offen bei der Caritas-Veranstaltung reden zu können, fanden deshalb mehrere "super". *
Mit Volker Dittmar, einem erfahrenen Diplom-Psychologen, psychologischen Therapeuten und
Traumatherapeuten, hatte die Caritas in Günzburg einen Redner gewonnen, der aufgrund seiner langjährigen beruflichen Erfahrungen einen umfangreichen und aufschlussreichen Einblick vermittelte, wie sich Traumatisierungen zeigen, posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln, welche Folgen sie haben und wie man damit umgehen müsse. Dittmar arbeitet am Bezirkskrankenhaus Regensburg und ist Leiter des Traumainstituts Süddeutschland.
"Erzähl ruhig", dieser Satz, so gut gemeint er auch sei, ist für Dittmar ein falscher Ansatz. Erzählen hilft nicht. Erst recht nicht, "wenn dabei zu sehr ins Detail gegangen wird." Ansprechen ja, aber Details wieder wachwerden zu lassen, sei kein guter Weg. Denn dabei besteht die Gefahr einer Retraumatisierung. Wie kann man nun aber darüber reden, damit sich die Situation nicht noch verschlimmert? Den Fachberatern wie auch den Betroffenen selbst gab er den Tipp, in ein Gespräch über das Erlebte mit einer Imaginationsübung einzusteigen. Gedanklich solle man sich einen Tresor oder abschließbaren Schrank vorstellen, in den man alles hineinlege, was einen daran hindere, im Hier und Jetzt des Gesprächs zu sein. Dann könne man "über" das Erlebte sprechen, auch um dabei aufzuzeigen, dass das "Damals der Katastrophe heute nicht mehr ist, und dass man sicher ist".
Betroffene, die Flashbacks erlebten, sollten in diesem Moment woanders hinschauen und mit der "1-2-3-4-5-Übung" sich ins Hier und Jetzt holen. Man solle fünf Dinge aufzählen, die man um sich sieht, dann fünf Farben aus dem Umfeld benennen und fünf Gerüche identifizieren. Die nachts noch Alpträume haben, sollten sich Papier und Stift bereitlegen und unmittelbar nach dem Aufwachen den Alptraum aufschreiben. Am Tag danach sollen sie diesen Alptraum umschreiben. Zuerst das Erlebte niederschreiben, dann aber ein neues Ende anfügen. Zum Beispiel wie andere halfen oder dass man doch sehr viel dafür getan hat, dass es nicht noch schlimmer wurde, dass man keineswegs gänzlich hilflos war oder ein anderes schönes Ende beschreiben. Und dann solle man an den nächsten Tagen die Geschichte drei Mal lesen. Dittmar empfahl auch als Übung, sich etwas Schönes vorzustellen, einen Ort, wo man sich wohlfühlt oder wo es wie in einem Fantasie-Garten wunderschön ist. Man solle sich dann zum Abschluss an die Nase oder an das Ohr fassen, um dies dabei erlebte Gefühl bei Bedarf wieder schnell hervor holen zu können.
Die Erklärung für diese Übungen: Das Gehirn des Menschen lasse sich durch Psychoedukation trainieren. So könnte das dramatische und schwere Erlebnis im Gedächtnis abgelegt werden. Die Erinnerung werde nicht gelöscht - "das gelingt nicht, auch wenn sich das Betroffene noch so sehr wünschen" - , aber sie hat nicht mehr die alles bestimmende Bedeutung. "Man kann dann über die Erinnerung sprechen, mit ihr umgehen, sie einordnen und erleben, dass das Ereignis in der Vergangenheit liegt und man jetzt sicher ist." Es geht also Dittmar zufolge um die Fähigkeit zu erlernen, zwischen damals und heute zu unterscheiden.
Wenn im nächsten Jahr sich das Ereignis des Hochwassers wiederhole, dann - so gab Dittmar den Tipp, solle man sich nicht zurückziehen und an all das Ereignis denken. "Tun Sie etwas Besonders, gönnen Sie sich einen schönen Tag, machen Sie einen Ausflug!"
Dittmar will Betroffene nicht dabei allein wissen. Wie ein Mensch ein Trauma verarbeite und wie sein Gehirn und Körper darauf reagiere, hat ganz entscheidend mit der sozialen Unterstützung von Beginn an zu tun. "Die soziale Unterstützung ist wesentlich dafür, dass das Ereignis sich nicht zum Trauma entwickelt", betonte er. Auch verständnisvolle vertraute Personen, "verlässliche Bezugspersonen", seien wichtig, mit denen man reden könne. "Das muss nicht der Ehemann oder die Ehefrau sein, oder der Bruder oder die Freundin. Auch psychologische oder soziale Berater können diese Rolle übernehmen." Der Sozialpsychiatrische Dienst der Caritas in Günzburg bot deshalb an, eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen. Mehrere Betroffene nahmen das Angebot war und hinterließen noch während der Veranstaltung ihre Kontaktdaten.
Hilfe zu suchen, so der Traumatherapeut Dittmar, sei dabei keine Schwäche. "Es ist Stärke zu erkennen, dass man es nicht alleine schafft", ermutigte er die Betroffenen. Das sollte auch das Umfeld erkennen: "Es ist völlig okay, dass Du leidest. Ich verstehe dich." Man dürfe aber auch nicht Ewigkeiten verstreichen lassen. Wenn nach acht Wochen nach der ersten Schockphase die sogenannte "Einrichtungsphase" mit Depressionen, Erinnerungsattacken und stark schwankenden Stimmungen nicht in eine Erholungsphase übergehe, in der man ins Leben zurückkehrt, "ist fachliche Hilfe geboten". Tue man es nicht, schade man nicht nur sich selbst. Immer bestehe die Gefahr, dass insbesondere Kinder - auch wenn sie das Ereignis nicht selbst erlebt hätten - durch die Trauma-Symptome der erkrankten Person eine "Sekundär-Traumatisierung" erfahren. "Auch wenn wir das nicht wollen, wir übertragen unsere Ängste unseren Kindern."
* Hinweis: Die Redaktion vermied bewusst, Namen zu benennen, auch Namenskürzungen zu wählen oder nähere Beschreibungen der betroffenen Personen vorzunehmen, weil vermieden werden soll, sie durch namentliche Erwähnungen in womöglich retraumatisierende Situationen zu bringen.
Info und Kontakt
Sozialpsychiatrischer Dienst Günzburg
Heidenheimer Str. 22
89312 Günzburg
Tel.: 08221 32150
E-Mail: spdi.guenzburg@caritas-augsburg.de
Website: www.caritas-augsburg.de/spdi-guenzburg
Caritasverband für die Region Günzburg und Neu-Ulm e. V.
Dipl. Pädagogin
Sylvia Frey-Dorsch
Hochwasserhilfe im Landkreis Günzburg
Postgasse 1
89312 Günzburg
Tel. 08221 36760
Mobil: 0157 85003464