"Es bedeutet einen erheblichen und weitreichenden Systemwandel in der Behindertenhilfe", so Dietmar Bauer, Sozialbereichsleiter des Caritasverbandes für die Diözese Augsburg e. V.. "Auch wenn wir noch fast drei Jahre zur Umsetzung vor uns haben, wir werden diese Zeit dringend nötig haben, um die Dienste in der Behindertenhilfe anzupassen und umzustrukturieren." Aus diesem Grund hat das Fachreferat Behindertenhilfe des Diözesan-Caritasverbandes Trägervertreter, Einrichtungsleiter und MitarbeiterInnen der stationären wie auch ambulanten Behindertenhilfe zu einem ersten Informations- und Fachtag eingeladen. 110 Fachleute aus den verschiedensten Einrichtungen und Dienste der Caritas-Familie im Bistum Augsburg nahmen das Angebot des Informations- und Fachtages dankbar an.
Das BTHG war lange diskutiert, die einzelnen Regelungen und Bestimmungen auch sehr kontrovers diskutiert worden, bevor es im vergangenen Sommer verabschiedet wurde. "Dennoch kann heute noch niemand genau sagen, wie es sich im Detail in der Praxis auswirken wird", so Peter Hell, der das Referat Alten-, Behinderten- und Gesundheitshilfe, Hospiz und Autismus des Diözesan-Caritasverbandes leitet. "Aber deshalb dürfen wir uns nicht zurücklehnen und einfach abwarten. Nein, wer sich jetzt auf den Weg begibt, Konzepte entwickelt, seine Strukturen entsprechend anpasst oder erweitert, der wird mit der endgültigen Umsetzung des BTHG in 2020 gut bestehen können."
Hell begrüßte die positiven Aspekte des BTHG. Die Selbstbestimmung des Menschen mit Behinderung werde gestärkt, die Hilfen und Unterstützungen an der Einzelperson besser ausgerichtet, es würden Alternativen bei der Teilhabe am Arbeitsleben geschaffen und Einkommen und Vermögen der betroffenen behinderten Person selbst wie auch der Angehörigen deutlich weniger angerechnet. "Er kritisierte aber auch die "andere Seite" der Zielsetzungen des Gesetzes: Stärkung der Steuerungsmacht der Leistungsträger auf Kosten der Vielfalt der Angebote, Reduzierung der Ausgabendynamik ohne echte Alternativen und nicht zu Letzt politisch angestrebte Erschwernis bei "Neuzugängen" in die Eingliederungshilfe. Ob es dem Gesetzgeber gelingen werde, die Zahl der Menschen mit Behinderungen durch das BTHG dauerhaft zu senken, die Anspruch auf Eingliederungshilfe haben, bezweifelte er. Fakt ist, dass in 2015 883.000 Menschen die Eingliederungshilfe bezogen. 2014 wurden dafür 16,4 Mrd. Euro ausgegeben. Die Prognose für 2020 ging von einer Steigerung auf 21,4 Mrd. Euro aus. Grund für die Steigerung: Jährlich kommen 14.000 neue Leistungsempfänger hinzu.
Mit vielen Schautafeln, die das Behindertenreferat zusammen mit Hell für die TeilnehmerInnen
vorbereitet hatten, erläuterten Hell, Verena Rauch und Maximiliane Eisenmann detailliert die Veränderungen bzw. neuen Bestimmungen des BTHG.
Kern bzw. Ausgangspunkt des BTHG ist das Verständnis von Behinderungen nach dem "ICF", dem "International Classification of Functioning, Disability and Health". Behinderung entsteht demnach nicht automatisch "aus der körperlichen oder geistigen Einschränkung" an sich, sondern ist Ergebnis aus der Wechselwirkung von funktionalen körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen mit den Einflüssen der sozialen und sachlichen Umgebung. Vor allem ist Behinderung von der Situation abhängig, in der der Mensch sich gerade befindet: Die gleiche funktionale Einschränkung kann beim Stadionbesuch zu starken Einschränkungen führen, beim angepassten Arbeitsplatz aber kaum noch Auswirkungen haben. "Diese neue Sicht, von uns lange erwünscht, ist super", so Hell, "sie entspricht der Lebensrealität der Menschen". Ziel des BTHG sei es deshalb, Benachteiligung zu vermeiden bzw. ihr entgegenzuwirken und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erreichen, wie Eisenmann und Rauch herausstellten.
Die Kostenträger für Rehabilitation, Krankenkassen, Rentenversicherung, öffentliche Kostenträger, aber auch Arbeitsämter müssten deshalb künftig, jeden individuellen und funktionsbezogenen Bedarf des jeweiligen Menschen mit Behinderung ermitteln und auf dieser Basis einen Gesamtplan (sofern nur Eingliederungshilfe erforderlich ist) bzw. einen Teilhabeplan (wenn mehrere unterschiedliche Unterstützungshilfen benötigt werden) erstellen. Es gibt also künftig keine pauschale Bedarfsplanung mit Komplexleistungen mehr, sondern nur noch individuelle Vereinbarungen. Diese müssen innerhalb von drei Wochen, spätestens aber in zwei Monaten ermittelt werden. Dabei haben die betroffenen Personen das Recht, zu dem Gesamtplan wie auch Teilhabeplan gehört zu werden.
Das Budget für Arbeit nimmt dabei einen besonderen Platz ein, will man ja durch die Integration von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt die Zahl reduzieren, die Anspruch auf Eingliederungshilfe haben. Potentiellen Arbeitgebern garantiert er einen Lohnkostenzuschuss von bis zu 75 Prozent für eine eventuell geringere wirtschaftliche Ertragsleistung eines Menschen mit Behinderung, wenn er ihn anstelle. Daneben wird der Bund in den nächsten Jahren die Agentur für Arbeit und die Rentenversicherung mit 500 Millionen Euro ausrüsten, um Modellprojekte zur Verhinderung von Eingliederungshilfe-Bedarfen auf dem Arbeitsmarkt durchzuführen. Dazu empfahl Hell den Trägern, Einrichtungen und Dienste der Caritas-Familie in der Behindertenhilfe, sich in Verbindung mit den Arbeitsämtern zu setzen. "Es geht nicht so sehr um das Geld, als darum, dass Sie durch diese Modellprojekte Wissen und Erfahrungen sammeln", so Hell.
Eine besondere Herausforderung für Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) liegt darin, dass das BTHG bewusst andere Leistungsanbieter vorsieht, denen das Gesetz weniger Vorgaben macht und weniger Verpflichtungen auferlegt wie bei den WfbM. Das schafft für die Betroffenen zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten, erhöht aber gleichzeitig die Kosten- und damit Preiskonkurrenz für die WfbM, die bislang schon genau kalkulieren müssen, um auf dem Markt mit ihren Arbeitsleistungen bestehen zu können. Auch in diesem Punkt riet das Team des Augsburger Diözesan-Caritasverbandes dazu, nicht den Kopf in den Sand zu stecken, sondern sich genau zu überlegen, ob sie nicht selbst ein solches Angebot in ihr Portfolio aufnehmen sollten.
Eine völlig andere Herausforderung schafft das BTHG dadurch, indem es den Bereich der existenzsichernden Leistungen wie Verpflegung und Wohnen von den pädagogischen Fachleistungen trennt. Früher waren alle Leistungen für einen Menschen mit Behinderung durch ein Entgelt von einem Kostenträger abgedeckt. Durch die Trennung zahlt z.B. der Kostenträger für die Eingliederungshilfe nur noch die Fachleistung. Unterkunft und Verpflegung werden beim Menschen mit Behinderung somit quasi gleichgestellt mit allen anderen Beziehern von Grundsicherung. Wer aber für die Grundsicherung von Menschen mit Teilhabebedarfen zukünftig zuständig sein wird, ist ebenso offen wie die Frage, ob die Finanzierung der "Wohnung" für die notwendigen zusätzlichen baulichen Maßnahmen z. B. zur Gewährleistung der Barrierefreiheit ausreichend sein wird.
Das Gesetz definiert darüber hinaus erstmals konkret Assistenzleistungen. Dabei unterscheidet es zwischen der einfachen Begleitung und der pädagogischen Befähigung zur selbständigen Handlung. Sorge bereitet die Bestimmung, wonach für die Begleitung von Menschen mit Behinderung keine Fachkräfte mehr vorgeschrieben sind. Denn niemand kann voraussehen, wie sich eine dem Gesetz nach normale Begleitsituation wie z.B. der Besuch eines Fußballspiels durch eine sich verändernde Erlebnissituation so deutlich verändern kann, dass auf einmal eine pädagogische Fachleistung nötig werden kann.
Ein weiterer Punkt, der die Anbieter von Teilhabeleistungen vor Herausforderungen stellt, sind die sogenannten "Pool-Leistungen". Hierbei geht es um Leistungen, bei denen mehrere Personen gleichzeitig unterstützt werden können.
Künftig werden Einkommen und Vermögen von Ehe- und Lebenspartnern von Eingliederungshilfe-Berechtigten vollkommen frei gestellt. Für Antragsteller und Eltern Minderjähriger wird es hierbei erhebliche Verbesserungen geben. Besteht jetzt schon ab 2017 eine Freigrenze in der Eingliederungshilfe von 25.000 Euro an Vermögen, so erhöht sie sich 2020 auf über 50.000 Euro. Auch bei der Anrechnung von Einkommen gibt es ab 2020 erhebliche Verbesserungen, ohne dass aber ein vollständiger Verzicht auf einen Eigenbeitrag durchgesetzt werden konnte.
Die umfangreichen Veränderungen erfordern eine zuverlässige, gute und unabhängige Beratung. Diese soll, so der Bundesgesetzgeber, bereits ab dem 1. Januar 2018 starten. Damit das Ziel erreicht werden kann, fördert der Bund, so die ersten Planungen, je eine Beraterstelle pro 100.000 Einwohner. Insbesondere die Dienste der Offenen Behindertenhilfe (OBA) sollten, so die Empfehlung in Augsburg bei dem Informations- und Fachtag, sich um diese Beratungsstellen bewerben und im Sommer 2017 den Antrag dafür einreichen. "Ob Sie hier mitreden können und werden, ist von hoher Bedeutung für die Entwicklung der OBA", betonte Hell. "Sie müssen ihren Kunden und Klienten sagen können, "welche Rechte aus den Sozialgesetzen sie haben, wie die jeweiligen Verfahrenswege sind, oder wie viel er aus seinem persönlichen Einkommen und Vermögen er künftig für sich behalten kann."
Die gesetzlichen Bestimmungen für die Maßnahmen und Unterstützungen im Rahmen der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung, zur Teilhabe am Arbeitsmarkt, an Bildung und gesellschaftlichen Leben sowie für die dafür notwendigen Umsetzungen in der Behindertenhilfe werden zum großen Teil erst ab 2020 in Kraft treten. Doch schon jetzt müssen die Träger, Einrichtungen und Dienste in der Behindertenhilfe anfangen dafür die wesentlichen Voraussetzungen zu schaffen. Ab 2018 müssen nämlich z. B. die Gesamt- und Teilhabepläne für jeden einzelnen Menschen mit Behinderung erstellt werden.
Trotz aller detaillierten Informationen im Vortrag und in den Fachtagsunterlagen bleiben noch offene Fragen. Viele Dinge sind im BTHG so angelegt, dass die Länder sie verändern bzw. bestimmen können. Dazu gehört z.B. die OBA-Richtlinie genauso wie die Frage, wer in Bayern künftig für die Eingliederungshilfe, die Hilfe zur Pflege und die existenzsichernden Leistungen zuständig sein wird.
Die wichtigste Gewissheit, mit der die 110 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Hause gehen, war:
"Ihnen stehen inhaltlich komplexe und umfangreiche Aufgaben bevor." Der Fachverband des Deutschen Caritasverbandes "Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie" (CBP) hat dazu bereits einen Kompass mit detaillierten Handlungshinweisen an die Caritas-Träge vorgelegt. Der Caritasverband für die Diözese Augsburg empfiehlt seinen Mitgliedseinrichtungen auf jeden Fall, sich darum zu bemühen die Beratungsleistungen mitzugestalten und auf jeden Fall eine eigene Beratungskompetenz aufzubauen. "Fangen Sie jetzt an, Ihre Mitarbeitenden entsprechend zu schulen. Was bedeutet die ICF-Definition für Behinderung? Wie sieht das Bedarfsermittlungsinstrument aus?", so Peter Hell. "Fangen Sie jetzt an, ihre Fachleistungen konzeptionell neu zu fassen und gestalten Sie Ihre administrativen Grundlagen neu."
Auf keinen Fall sollte man meinen, dass fast drei Jahre genügend Zeit zur Vorbereitung ausreichen würden. "Es stehen Riesenänderungen für Anbieter an, konzeptionell, inhaltlich wie auch wirtschaftlich. Wir müssen uns sputen und anstrengen." Wer an die "riesige Herausforderung" des BTHG von Anfang an konsequent und mit Gestaltungswillen herangeht, gute Konzepte entwickelt, der wird gute Chance haben aus dem BTHG gestärkt hervor zu gehen", machte Hell den 110 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Informations- und Fachtages Mut. Um die Träger, Einrichtungen und Dienste in der Behindertenhilfe der Caritas-Familie zu unterstützen, will der Diözesan-Caritasverband eine eigene Stelle für deren fachliche Begleitung schaffen.