„Gott sei Dank. Mein Kind geht in eine gute Schule. Da gibt es keine Drogen.“ So mögen Eltern denken. Doch die Erfahrung lehrt: Sie liegen völlig falsch. „14-jährige reden in den Schulen offen darüber. Wenn sie etwas haben wollen hier bei uns in Kempten, dann bekommen sie es auch.“ Die Diplom-Sozialpädagogin und Suchtberaterin Caren Arendt gibt sich da keiner Illusion hin. Sie kennt als Mitarbeiterin des Drogenkontaktladens „Talk Inn“ der Caritas die Situation in Kempten nur zu gut. Aufklärung und Information sind noch immer die besten Mittel, dem Drogenkonsum entgegenzuwirken. Doch es wird immer schwieriger.
Der entscheidende Grund für die fast aussichtslose Situation ist juristischer Art. Der Europäische Gerichtshof entschied nämlich im Juli 2014, dass die neuen psychoaktiven Substanzen bzw. Drogen nicht unter das Arzneimittelgesetz fallen, da sie keine Medikamente sind. Laut dem Bundesbetäubungsmittelgesetz sind aber nur jene psychoaktiven Stoffe verboten, die dort genau – auch in ihrer Zusammensetzung – aufgelistet sind. Man spricht deshalb auch von „Legal Highs“, also von legalen Rauschmitteln. Da sie legal sind, können sie auch in Deutschland hergestellt und vertrieben werden.
Wer nun meint, dass man diese Lücke doch leicht schließen könne, der weiß nicht um die Kreativität in der Szene. Dirk Grimm von Mindzone in München nimmt da jedem wohl jegliche Illusion: 2010 wurden 49 Substanzen im Labor geschaffen, 2011 kamen 70, 2013 81 und 2014 83 dazu. Sucht man auf Google nach Legal Highs erhält man in kürzester Zeit 3.850.000 Ergebnisse. Gibt man „Legal Highs kaufen“ ein, sind es 102.000 Ergebnisse.
Barbara Habermann, Leiterin des Referates Sucht und Psychiatrie des Augsburger Diözesan-Caritasverbandes, ist sich mit Grimm und Arendt einig. „Information der Öffentlichkeit und Fortbildung aller Kolleginnen und Kollegen, die in der Drogen- und Suchtarbeit arbeiten, sind das Gebot der Stunde.
Ein erster Schritt war Grimms Besuch im Drogenkontaktladen „Talk Inn“ in Kempten. Er ist der Fachmann. Sein Vortrag ist sehr klug aufgebaut, er erzählt lebendig und man spürt, er weiß, von was er redet. Gleichzeitig wird deutlich. Man muss sich in das Thema einlesen, nachfragen, sich ständig auf dem Laufenden halten. Was sind NPS, also die Neuen psychoaktiven Stoffe, Legal Highs, Research Chemicals oder Chrystal Meth oder Badesalze?
Es ist die regelrechte Überflutung an Fakten, die es so schwer macht, hier Übersicht zu bewahren. Fakt ist: Alle Stoffe sind NPS. Legal Highs werden so genannt, weil sie noch legal sind und noch nicht im Betäubungsmittelgesetz aufgenommen sind. Dazu gehören die sogenannten Badesalze, die so Grimm von Mindzone, inzwischen als „alter Hut“ gelten. Badesalze wie auch die sogenannten „Pflanzendünger“ bauen auf Amphetamin auf. Die sogenannten „Kräutermischungen“ und „Räucherstäbchen“ auf einer Cannabis-Basis. Research-Chemicals (RCs) sind reine synthetische Reinsubstanzen. Sie entwickeln sich leider zum „Renner“, wie Grimm sagte. Diese werden in chemischen Labors entwickelt und auch offiziell als Chemikalien vermarktet. Aber solange sie nicht vom Betäubungsmittelgesetz erfasst und damit verboten sind, gelten sie gleichzeitig alle als Legal Highs, also als legale Drogen. Nur das sich immer stärker verbreitende Chrystal Meth, ein Metamphetamin ist illegal.
Um die Verwirrung komplett zu machen verwenden Händler gerne Begriffe wie „Badesalze“ oder Bezeichnungen wie „Kräutermischung zur Raumluftaromatisierung“. „Speedy Power-Pillen“ werden als Pflanzendünger angeboten. Die Inhaltsstoffe werden verständlicher Weise nicht auf der Verpackung deklariert. „Das ist nichts anderes als eine große Verschleierungsaktion“, so Grimm von Mindzone.
Auch wenn diese Neuen psychoaktiven Stoffe mit ihrer rasch wachsenden Zahl von chemischen Abkömmlingen und Vermischungen nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen und insofern „legal“ sind, haben all diese Drogenstoffe eins gemeinsam: Sie sind psychoaktive Substanzen, die sich auf das Gehirn auswirken, wenn auch unterschiedlich wirken. Sie putschen auf, erweitern das Bewusstsein, enthemmen emotionale Schranken, machen aggressiv und führen dazu, dass sich Konsumenten wie z.B. beim sogenannten Badesalz kaum noch bändigen lassen. Andere Stoffe wirken beruhigend und „eröffnen“ eine psychodelische Rauschwelt.
So einfach, wie sich das hier vielleicht lesen mag, ist die Realität aber nicht. So schnell neue Stoffe auf den Markt kommen, so schnell unterschiedlichst beigemischt wird, je komplizierter die chemischen Strukturformeln der NPS bzw. RCs und umso wirksamer sie auch leider sind, so groß ist das Unwissen unter den Konsumenten. „Wer sich nicht auskennt, nimmt schnell eine Überdosis. Und das kann schlimme Folgen haben“, sagt Grimm.
Die Nebenwirkungen können massiv sein. Herzkreislaufstörungen, psychotische Zustände, Panikattacken, Todesängste, Bewusstseinsstörungen und Lähmungen, listet Grimm auf. Schnell werde eine psychische Abhängigkeit entwickelt. Das Bedürfnis „nachzulegen“ wächst stark an. Ein erhöhter Konsum mindert den Schlaf. Das wiederum führt zu erhöhter Aggressivität.
Wer die Stoffe in einer Überdosis zu sich nimmt und in ein Krankenhaus eingeliefert wird, hat keine Sicherheit dafür, dass die Ärzte ihn richtig behandeln können. Es gibt zu wenige wissenschaftliche Daten, auch weil ständig neue Stoffe auf den Markt kommen. Die Ärzte sind dann, so Grimm, ziemlich ratlos, was sie dem Patienten spritzen sollen, denn sie wissen nicht und können es auch nicht diagnostizieren, was an Drogen konsumiert wurde. „Die Drogenschnelltests schlagen bei den RCs und den Legal Highs nicht an.“
So dumm es klingt. Aber genau diese Nichtnachweisbarkeit ist für viele ein zusätzlicher Konsumanreiz. Händler nutzen das ebenfalls aus. Ecstasy – Tabletten werden gestreckt, aber als reine Tabletten teuer verkauft.
Chrystal Meth hingegen ist nachweisbar. Diese Metamphetamin-Droge ist auch illegal. Chrystal Meth hat eine stark puschende Wirkung und ist inzwischen genau deshalb die häufigst konsumierte illegale Droge nach Cannabis. Chrystal Meth führt anfangs zu einem starken Leistungsschub, extremer Wachheit, bewirkt eine extreme Euphorie, erhöht die Kontaktbereitschaft und scheint genau deshalb in den Alltag gut zu integrieren zu sein. Unterbricht man den Konsum, erlebt man allerdings genau das Gegenteil. Das überwindet man mit erneutem Konsum. Das führt zu einem Alltagskonsum. Doch all das kann die Langzeitfolgen nicht verhindern: Eine dramatische Persönlichkeitsveränderung, anhaltende Gefühlskälte und Aggressionen, ein zerstörtes Immunsystem, Zahnschäden und vieles mehr.
Die Fakten, so unübersichtlich sie für den Laien und viele Eltern sind, liegen auf dem Tisch. Dennoch sind Drogen in der Gesellschaft immer noch ein großes Tabuthema, auch wenn die Medien immer wieder darauf aufmerksam machen. „Man redet halt nicht gern darüber“, so Grimm. Die Gründe sind vielfältig. Einer davon ist, dass wenn man von Drogen spricht, an die Gosse, an Verelendung und Kriminalität denkt. Eltern denken vor allem so.
Doch die jungen Menschen, die zu den Hauptkonsumenten zählen, denken nicht in dieser Kategorie. Gerhard Zech, ebenfalls Mitarbeiter des Talk Inn der Caritas in Kempten, sieht andere Beweggründe für den Konsum. „Sie suchen Stimulation, Anregung, eine virtuelle Realität, die ihnen hilft aus ihrer Realität zu flüchten.“ Caren Arendt, seine Kollegin, erkennt noch einen weiteren Beweggrund. „Die Gesellschaft gaukelt vor, dass alle perfekt sein müssen, immer alles schaffen müssen und allzeit bereit sein müssen.“ „Wir müssen also miteinander reden, zuhören und gleichzeitig informieren“, sagte Barbara Habermann.