S. - näher will er nicht benannt werden - ist heute 20 Jahre alt, wird ständig gelobt für seine guten Deutschkenntnisse, für seinen Arbeitseifer und hat schon vor Ausbildungsbeginn aufgrund seines Charakters und Engagements eine Zusicherung in der Tasche hat, danach fest übernommen zu werden.
S. lebte schon sieben Jahre mit seinen Eltern und Großeltern bei Kempten. Sie alle waren und sind Wolgadeutsche mit Wurzeln in Kasachstan. Nach deutschem Staatsbürgerrecht bestand nie ein Zweifel daran, dass sie Deutsche sind. Als S. neun Jahre alt war, zerbrach die schon seit längerem zerrüttete Ehe seiner Eltern endgültig. Seine Großmutter hatte das kommen sehen. Olga J. hatte aber nie gedacht, dass die Mutter ihr Kind entführen würde.
Die Großmutter war zutiefst besorgt: "Kinder, erst recht Kinder in der eigenen Familie sind doch das wichtigste, was man hat." Die Mutter meldet sich nicht. Sie wussten nur, dass sie zurück in ihre Heimat wollte. Olga J. macht sich sofort auf den Weg, suchte bei unterschiedlichen Stellen. Sie konnte alle Dokumente vorlegen, die belegen, dass S. Deutscher ist. Doch sie erhielt nur eine Antwort: "Sie müssen ein Rechtsanwalt einschalten." "Und das ließ man mir nur mitteilen, wirklich beraten wurde ich nie!", beklagt sie sich. Der Schmerz, nicht ernst genommen worden zu sein, sitzt tief, auch heute noch.
Olga J. konnte sich keinen Rechtsanwalt leisten, wollte sie schließlich auch nicht. Denn ein Vorgespräch mit einem Rechtsanwalt führte nicht weiter. Olga J. gab auf. Sie hoffte, dass es ihrem Enkel bei seiner Mutter gut ginge. "Sie ist schließlich die Mutter."
Jahre folgten ohne jede Nachricht. Es waren für Olga J. keine guten Jahre. Doch im Frühsommer 2016 klingelte es bei ihr zuhause. Ihr Enkel rief an. Er hatte seine Tante über Facebook gefunden. Sie gab ihm dann die Telefonnummer seiner Großmutter. S. lebte seit zwei Jahren allein bei Kiew ohne Arbeit und ohne Geld. Seine Mutter hatte wieder geheiratet. Ihren Sohn wollte sich nicht mehr bei sich haben. S. war unglücklich. Es ging ihm auch nicht gut. 176 cm ist er groß, wog aber damals nur knapp 50 kg. Und er hatte Angst davor, als Soldat in den Krieg in der Ukraine ziehen zu müssen. S. sagt auch heute noch dazu: "Das war und ist nicht mein Krieg!"
Olga J. versprach ihm, ihn nach Deutschland heimzuholen. Sie nahm alle Dokumente und ging wieder zu der Beratungsstelle. Doch erneut erfuhr sie nicht die erhoffte Hilfe. Man hielt sie wochenlang hin. Sie sollte einen Dolmetscher mitbringen, obwohl sie einwandfrei Deutsch spricht. Aus ihr brechen die Tränen hervor, als sie erzählt, was sie damals erlebt hatte.
Dann erfuhr sie, dass die Caritas in Kempten eine Migrationsberatungsstelle hat. Als sie einen Mann auf der Straße fragte, wie sie dorthin kommen sollte, zeigte er ihr persönlich den Weg.
Ein gutes Vorzeichen? Es war wohl so, denn "Kathrin Henningsen von der Migrationsberatungsstelle der Caritas nahm mich ernst, hörte mir zu", wie Olga J. erzählt. Henningsen nahm sich mit ihrer Kollegin Valentina Kloos des Falls an. Sie vermittelten einen Anwalt, der stellte den Kontakt zum Bundesverwaltungsgericht her. Welche Dokumente werden in welcher Reihenfolge benötigt? Olga J. fühlte sich auf einmal aufgehoben. Sie lieferte alle Dokumente, die der Anwalt anforderte. Dann konnten sie bei der Dienststelle des Bundesverwaltungsgerichts in Kiel eingereicht werden.
Um S. aus der Ukraine herausholen zu können, machte sich seine Großmutter schließlich selbst auf den Weg nach Kiew. Die ukrainischen Behörden stellten dann auf einmal fest, dass S.‘ Mutter von Deutschland aus zunächst nach Kasachstan ausgereist war und S. die ukrainische Staatsbürgerschaft nicht hatte. Nun drohte S. die Deportation nach Kasachstan, weil er weder als Deutscher noch als Ukrainer anerkannt wurde. Olga J. setzte dann alle ihre Hoffnungen auf das deutsche Konsulat. Dort machte man sich sofort daran, ihr zu helfen. Das deutsche Konsulat prüfte die Dokumente. Dank der Hilfe einer Mitarbeiterin des Rathauses in Lauben bei Kempten konnte schließlich amtlich festgestellt werden, dass S. tatsächlich die deutsche Staatsbürgerschaft innehat.
S. durfte heim nach Deutschland, zu seinem Vater und zu seinen Großeltern. Neun Jahre lang hat er kein Deutsch mehr gesprochen. Und doch spricht er nach wenigen Wochen so gut Deutsch, dass jedermann davon angetan ist. Er hängt sich rein, besteht auf Anhieb einen Auswahltest für einen Ausbildungsberuf. Olga J. gerät ins Schwärmen, wenn sie über ihren Enkel spricht. Und so glücklich und dankbar sie heute dafür ist, wie gut und erfolgreich die beiden Damen von der Caritas dabei geholfen haben, ihren Enkel S. aus der Ukraine zurückzuholen, so sehr hadert sie mit den verlorenen neun Jahren, "nur weil man mir nicht helfen wollte". Kathrin Henningsen freut sich mit Olga J., bittet sie, ihren Ärger zur Seite zu schieben und sich nun nur noch darüber zu freuen, dass S. wieder zuhause ist. Lob will sie keinen: "Wir haben nur das getan, was unser Auftrag ist: Wir nehmen die Menschen, die zu uns kommen, mit ihren Anliegen ernst", sagt Henningsen.