Und plötzlich steht die Frage im Raum: "Kann ich überhaupt noch in meinem Zuhause bleiben?" Eine positive Antwort gibt die Modellwohnung im Möbelhaus Hardeck in Senden-Bösensell. Sie ist das Ergebnis einer ungewöhnlichen Kooperation zwischen dem Unternehmen und dem Alten- und Behindertenhilfeträger Stift Tilbeck aus Havixbeck.
Den zentralen Gedanken der Kooperation bringt Bernward Jacobs, Geschäftsführer des Stiftes, auf den Punkt: "Viele Menschen wollen dort leben, wo sie sich am wohlsten fühlen." Denn die Trennung vom liebgewonnenen Zuhause ist für viele Menschen ein Horrorszenario. Sie fürchten vor allem die einschneidenden Verluste: Die Familie, Freunde und Nachbarn sind nicht mehr in der Nähe, manchmal muss ein Garten zurückgelassen werden und die Kraft für einen Neuanfang in einer fremden Umgebung fehlt. Um dieses Szenario möglichst lange zu verhindern, braucht es neue Ideen für eine barrierefreie Wohnkultur.
In der Politik und in der Baubranche kommt das Thema Barrierefreiheit langsam an. Bei Neubauten wird sogar damit geworben. Doch Jacobs trieb seit zwei Jahren etwas anderes um: "Das Thema muss dahin, wo die Menschen sind." Ihm schwebte eine Art Schauraum für barrierefreies Wohnen vor.
An dieser Stelle kamen Marcus Hopp und Wilhelm Oelgemöller ins Spiel. Hopp arbeitet für Stift Tilbeck und leitet dort das Projekt "Technische Unterstützung für ein selbstständiges Leben". Oelgemöller ist 86 Jahre alt und lebt in einem Seniorenheim in Münster-Roxel. Dort hat er eine eigene Wohnung bezogen, die für das Projekt noch an Bedeutung gewinnen sollte.
Zunächst musste aber ein Ort für den barrierefreien Schauraum gefunden werden. Nach intensiver Suche wurden Jacobs und Hopp in einem Gewerbegebiet in Senden-Bösensell fündig. In der dortigen Filliale des Bochumer Möbelhausunternehmens Hardeck (ehemals Staas) sollte eine Musterwohnung eingerichtet werden. Nachdem das Okay der Unternehmensleitung erfolgt war, ging es an die Planung.
Dafür sammelte Marcus Hopp eine Projektgruppe um sich. Wichtigstes Aufnahmekriterium: Sie kennen den Alltag mit körperlichen Einschränkungen aus eigener Anschauung. Neben Wilhelm Oelgemöller, der hör- und sehbehindert ist ("Ich sehe alles wie in einer Waschküche"), waren auch Menschen im Rollstuhl in der Gruppe. Gemeinsam erdachten sie in mehreren Treffen die ideale Wohnung für ihre Bedürfnisse.
Das Ergebnis der Überlegungen findet sich heute in der Schlafzimmerabteilung des Möbelhauses. "60 Quadratmeter, verteilt auf eine großzügige Wohnküche, ein Schlafzimmer und ein ebenerdiges Bad", fasst es Hopp in bestem Maklerdeutsch zusammen. Vorbild der Wohnung: Wilhelm Oelgemöllers Zuhause in Münster-Roxel. Er fühlte sich in der Musterwohnung so heimisch, dass er einen Teil der Einrichtung gleich mitnahm: "Das Sofa steht jetzt bei mir im Wohnzimmer", sagt er mit einem Schmunzeln. Im Möbelhaus musste derweil noch vor der Eröffnung ein neues Sofa aufgebaut werden.
Das Oelgemöller zum Sofa griff, überrascht Marcus Hopp nicht: "Barrierefreies Wohnen hat vor allem mit Komfort zu tun." Das Sofa erleichtere aufgrund der höheren Sitzfläche eben nicht nur das Aufstehen, sondern sei in erster Linie bequemer als manch anderes Modell. Ähnlich sei es mit einer Handbrause für das Waschbecken im Bad. Diese eigne sich hervorragend für Menschen im Rollstuhl, wenn sie sich nur die Haare waschen, dafür aber nicht unter die Dusche rollen wollten. "Aber auch Menschen ohne Einschränkungen wollen sich "mal eben" die Haare waschen", zeigt Hopp den doppelten Komfort des Gerätes auf.
Es sind gerade diese Beispiele, die eines deutlich machen: "Viel zu oft wird das Thema Barrierefreiheit negativ angegangen", sagt Marcus Hopp. Dabei würden Innovationen in diesem Gebiet nicht nur Menschen mit körperlichen Einschränkungen, sondern allen Menschen Erleichterungen bringen. Inzwischen scheint dieses Denken zumindest im Münsterland anzukommen. "An unserer Information fragen Kunden gezielt nach der Musterwohnung", heißt es bei Hardeck. Ein Berater des Hauses hat sich inzwischen auf das Thema spezialisiert. Stift Tilbeck zeigt ebenfalls Präsenz vor Ort und veranstaltet in regelmäßigen Abständen Aktionstage. Zudem hat sich das "Tilbecker Assistenzteam" (TAT) gegründet, welches im Möbelhaus und darüber hinaus Beratung zum Thema Barrierefreiheit anbietet.
Das Konzept der Musterwohnung ist nicht völlig neu. Große Konzerne stecken sogar viel Geld in die Entwicklung einer "Wohnung der Zukunft". Die Ergebnisse würden aber häufig in Forschungszentren "versteckt", kritisiert Marcus Hopp. "Um eine solche Wohnung zu besichtigen, muss man meist mit einer Gruppe anreisen und womöglich noch einen Bus chartern", so Hopp. Das ist im Möbelhaus deutlich anders: Das Einzige, was man hier beachten muss, sind die Öffnungszeiten. Der Schauraum entwickelt sich also in die Richtung, die sich Bernward Jacobs erdacht hatte: "Wir sind mit dem Thema jetzt näher an den Menschen."
033-2015 (jks) 22. April 2015