Ethische Reflexion erleichtert klinische Abläufe
Es hat gedauert, bis die Initiative der beiden konfessionellen Krankenhausverbände (DEKV und KKVD) Kreise zog. Im März 1997 haben sie eine gemeinsame Broschüre veröffentlicht, die den einzelnen Krankenhäusern die Einrichtung eines klinischen Ethikkomitees empfohlen hat. In Bad Mergentheim kam die Umsetzung im Jahre 2005. Hier wie vermutlich in vielen anderen Krankenhäusern gelang sie im Zuge einer Zertifizierung, bei der das Bestehen eines Ethikkomitees in der Bewertung honoriert wurde. Das Caritas-Krankenhaus in Bad Mergentheim1 ist ein Krankenhaus der Zentralversorgung und Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Würzburg. Rund 1400 Mitarbeiter(innen) tragen Sorge für mehr als 22.000 stationäre und 45.000 ambulante Patient(inn)en pro Jahr. Dem Ethikkomitee gehören 14 Mitglieder aus den Bereichen Medizin, Pflege, Ethik, Theologie, Recht sowie Patienten an. In der Phase der Gründung und Implementierung war die beste Grundlage für ethische Reflexion im Gesundheitswesen, dass sich motivierte Menschen verbindlich und strukturiert mit Beauftragung des damaligen Krankenhausträgers (Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart) als klinisches Ethikkomitee an die Arbeit gemacht haben.
Ethikkomitee arbeitet nach dem „Prozessmodell“
Als im Jahr 2006 das Krankenhaus mit den Barmherzigen Brüdern Trier einen neuen Mehrheitsgesellschafter bekam, wurde die erfolgreich begonnene Tätigkeit des Ethikkomitees fortgeführt. Seither hat sich das Ethikkomitee durchschnittlich sechs- bis achtmal pro Jahr getroffen. Das Bad Mergentheimer Ethikkomitee arbeitet nach dem sogenannten „Prozessmodell“2, bei dem Mitarbeiter, Patienten oder Angehörige eine Ethikberatung anfordern können. Diese wird nach Möglichkeit auf der Station vor Ort durchgeführt. In den vergangenen Jahren wurde von diesem Angebot jährlich durchschnittlich achtmal Gebrauch gemacht. Vier Mitglieder des Komitees haben sich hierfür in der Moderation ethischer Fallbesprechungen qualifiziert. Diese werden regelmäßig bei den Sitzungen des Ethikkomitees nachbesprochen. Auch Ärzte nutzen gern die Möglichkeit, tagesaktuelle ethische Fragestellungen direkt vorzustellen und diskutieren zu lassen. Dabei geht es meist um ethische Konflikte im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und einer Ethik der Fürsorge.
Neben der Ethikberatung gehört die Erarbeitung und Implementierung von ethischen Leitlinien (beispielsweise Umgang mit Patientenverfügung, Bluttransfusion bei Zeugen Jehovas, Verfahrensanweisung zur Durchführung freiheits- entziehender Maßnahmen, Dokumentation des Verzichts auf Reanimationsmaßnahmen) zum Aufgabenkreis des Ethikkomitees ebenso wie die Ausrichtung öffentlicher Vortragsveranstaltungen zu ethisch relevanten Themen (wie Organtransplantation, Sterbebegleitung statt Sterbehilfe, Vorabverfügungen im Klinikalltag). Diese Veranstaltungen finden einmal im Jahr statt und werden im Wechsel gemeinsam mit der katholischen und evangelischen Kirchengemeinde durchgeführt.
Flankierend zu den genannten Aufgaben gilt es, Fortbildungen für ärztliche und pflegende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sicherzustellen. Dies geschieht im Kontext der innerbetrieblichen Fort- und Weiterbildung, in der Ausbildung der Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege sowie seit zwei Jahren durch das Angebot eines „Ethikcafés“ für Medizinstudent(inn)en im Praktischen Jahr ihres Studiums.
Ethik ist Führungsaufgabe
Im Laufe der Jahre bekamen die verschiedenen Befragungsinstrumente des Qualitätsmanagements für das Ethikkomitee immer größere Bedeutung. Zwei Perspektiven sind hier zu nennen:
Zum einen lassen sich aus Patienten-, Einweiser- und Mitarbeiterbefragungen Rückschlüsse auf ethisch relevante Themenfelder ziehen. Hier kommt dem Stichwort „Kommunikation“ große Bedeutung zu – sei es die immer knapper werdende Zeit für die Kommunikation in den Behandlungsteams oder im individuellen Arzt- beziehungsweise Pflege-Patientengespräch. Dies deckt sich mit den Erfahrungen des Ethikkomitees, dass etliche ethische Konfliktsituationen mit unzureichenden Kommunikationsstrukturen zu tun haben. Als Konsequenz aus einer der letzten Befragungen wurde ein mehrjähriges Kommunikationstraining begonnen, das sich als Pflichtfortbildung an Ärzte und Pflegende wendet und das auch auf das Kommunikationsverhalten in Krisensituationen und ethischen Konflikten eingeht.
Zum anderen ist das Ethikkomitee selbst gefragt, die eigene Arbeit einer Evaluation zu unterziehen. Seit zwei Jahren sammelt die Barmherzige-Brüder-Trier-Gruppe (BBT-Gruppe) Erfahrungen, um eine Evaluation der sogenannten „weichen Faktoren“ in der jeweiligen Einrichtung sicherzustellen. Dies geschieht einmal über einen „Jahresreport Ethik“, im Rahmen der Führungsgespräche zwischen Geschäftsführung und Direktorien, für den Themenkreis „klinische Ethik“ in der Regel mit den Hausoberen.
Alte und neue Herausforderungen
Es ist für die Arbeit eines Ethikkomitees sinnvoll, das eigene Tun aus Perspektive der Sozialethik (auf gesellschaftspolitischer Ebene), der Organisationsethik (auf institutioneller Ebene) sowie der Individualethik (auf persönlicher Ebene jedes Einzelnen) zu reflektieren.
„Wir leben in einer Gesellschaft, die von der Utopie des ewigen Lebens ohne Krankheit und Konflikte träumt, und die der Medizin die Aufgabe gestellt hat, die Vision aufrechtzuerhalten, die der Gesellschaft den Schrecken der Realität verstellt.“ Dieses Zitat, das dem im Jahre 2004 verstorbenen Begründer der psychosomatischen Medizin, Thure von Uexküll, zugeschrieben wird, beschreibt pointiert die extrem hohe und oft überzogene Erwartungshaltung, die gegenüber medizinischer Versorgung im Sinne einer kurativen Heilungschance auch bei infausten Krankheiten anzutreffen ist. Es geschieht ein kultureller Umbruch, den der Tübinger Ethiker Dietmar Mieth einmal die „Verschiebung im Verständnis zentraler Werte und Güter“ genannt hat.3 Krankheit und Gesundheit erscheinen als variable Begriffe. Leiden und Sterben werden tabuisiert. Das Verständnis von Lebensbeginn und Tod erfährt Verschiebungen, nicht zuletzt durch medizinisch möglich gewordene Interventionen. Daraus resultiert stets aufs Neue die Notwendigkeit, bis hinein in Gesetzgebungsverfahren (vgl. die Diskussionen zum Transplantationsgesetz oder zur Präimplantationsdiagnostik), den gesellschaftlichen Konsens bei zentralen Wertethemen zu suchen. Ethikkomitees in kirchlichen Einrichtungen haben darüber hinaus die Perspektive theologischer Ethik einzunehmen und diese im ethischen Diskurs in der Einrichtung und darüber hinaus weiterzuentwickeln. Die kürzlich geführte Debatte um die sogenannte „Pille danach“ ist ein gutes Beispiel dafür. Ethikkomitees sind aus dieser sozialethischen Perspektive eine Reaktion darauf, dass Konsens in existentiellen Fragen nicht mehr flächendeckend vorhanden ist, sondern im konkreten Klinikalltag gesucht und herbeigeführt werden muss.
Aus Sicht der Organisationsethik sind Ethikkomitees unmittelbar von den Strukturveränderungen im Gesundheitswesen betroffen. Dazu gehören nicht nur neue Organisationsformen wie Organzentren oder Medizinische Versorgungszentren (MVZs). Die beständige Personalfluktuation in einem Akademischen Lehrkrankenhaus verlangt eigentlich regelmäßige Information über Existenz und Arbeitsweise des Ethikkomitees. Eine zunehmend straffere Organisation der Abläufe, die im Managementdeutsch Prozessoptimierung oder -verdichtung genannt wird, erschwert es vermehrt auch Mitgliedern des Ethikkomitees, Termine neben dem „Kerngeschäft“ ihrer jeweiligen beruflichen Rolle wahrzunehmen. Erneut tut der Hinweis not, dass ethische Reflexion klinische Abläufe nicht verzögert, sondern um aller Beteiligten willen erleichtern, sogar beschleunigen kann.4
Durch zunehmende Spezialisierung und Veränderungen der ärztlichen und pflegerischen Berufe verändern sich auch die Rahmenbedingungen, denen sich jedes Ethikkomitee stellen muss.
Gesundheitsholding beteiligt alle Einrichtungen
Vor gut einem Jahr hat sich die Struktur der regionalen Krankenhauslandschaft im nordöstlichen Baden-Württemberg verändert. Unter dem Dach der Gesundheitsholding Tauberfranken bildet das Caritas-Krankenhaus gemeinsam mit den bis dahin vom Main-Tauber-Kreis allein getragenen Einrichtungen des Krankenhauses Tauberbischofsheim sowie zweier Altenhilfeeinrichtungen in Tauberbischofsheim und Gerlachsheim eine Einheit. Auch am Krankenhaus Tauberbischofsheim besteht ein Ethikkomitee, das vor fünf Jahren gegründet wurde. Um der neuen Unternehmensstruktur einerseits und der Perspektivenvielfalt für die ethische Reflexion andererseits gerecht zu werden, hat das Direktorium der Gesundheitsholding nun beschlossen, ein Ethikkomitee mit Mitgliedern aus allen Einrichtungen der Holding zu gründen. Dieser Prozess hat aktuell begonnen. Die Erfahrungen der Vergangenheit machen bei allen strukturellen Herausforderungen unseres Gesundheitswesens Mut, diesen Weg weiterzugehen.
Anmerkungen
1. Zur Gesundheitsholding Tauberfranken gehören das Caritas-Krankenhaus Bad Mergentheim, das Krankenhaus Tauberbischofsheim sowie drei Seniorenzentren im Main-Tauber-Kreis. Mehrheitsgesellschafter ist der Barmherzige Brüder Trier e.V.
2. Vgl. Neitzke, G.: Formen und Strukturen klinischer Ethikberatung. www.ruhr-uni-bochum.de/malakow/download/pdf/2008/080926_aem-tagung_vortrag_neitzke.pdf (aufgerufen am 10.2.2013).
3. Mieth, Dietmar: Was wollen wir können? Ethik im Zeitalter der Biotechnik. Freiburg : Herder Verlag, 2002.
4. Schneiderman, Lawrence et al.: Effects of Ethics Consultation on Nonbeneficial Life-Sustaining Treatments in the Intensive Care Setting. In: JAMA 290 (2003) S. 1166–1172.