Die vergessene Seite der Sucht
Eine Suchterkrankung schädigt nicht nur die Betroffenen, sondern kann auch bei Angehörigen schwere stressbedingte Erkrankungen auslösen.(Foto: Pixabay)
"Die Situation von Angehörigen eines Suchtabhängigen ist häufig durch Sorgen und Ärger, Selbstvorwürfe und Ängste geprägt. Der ständige Druck lässt oft keinen Raum für eigene Bedürfnisse und Interessen." Als Simone H. (Name geändert) ein Flyer des Caritasverbandes Dortmund in einem Wartezimmer in die Hände fiel und sie diesen Satz in der Infobroschüre des Projektes "Familien stärken" las, brach sie unvermittelt in Tränen aus. Verschämt flüchtete sie aus dem Wartezimmer. Der Satz hatte sie so getroffen, dass sie sich in der Folge an die Suchtberatungsstelle der Caritas wandte.
Im Erstgespräch erzählte sie, was sie an diesem Satz so stark berührt hatte: "Ich dachte, nur mir ginge es so. Nur ich bin unfähig und hilflos und mache alles falsch." Und zum ersten Mal konnte sie in Ruhe von ihrer Situation erzählen. Jahre nach dem Ende ihrer Ehe mit einem Alkoholiker entwickelte der erwachsene Sohn eine Spielsucht. Zum zweiten Mal in ihrem Leben fand sie sich in der Rolle der Angehörigen eines Suchtkranken, fühlte sich überfordert, alleingelassen und bei ihrem Sohn besonders in ihrer Mutterrolle als Versagerin.
So wie Simone H. geht es den meisten Angehörigen von süchtigen Menschen. "Sucht als Erkrankung mit dem entsprechenden Hilfebedarf und einem gut ausgebauten Hilfesystem ist inzwischen im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen", erläutert Monika Wulf, Leiterin der Dortmunder Caritas-Suchtberatung. "Angehörige jedoch führen mit ihrer Situation ein Schattendasein. Dabei ist ihr Leiden häufig nicht weniger dramatisch." Laut einer Studie, die im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit durchgeführt wurde, sind in Deutschland rund zehn Millionen Menschen Angehörige von Suchtkranken. "Der Wunsch, den Betroffenen aktiv zu helfen, steht in starkem Kontrast zum Erleben der eigenen Machtlosigkeit", sagt Wulf. Suchttypische Begleiterscheinungen im Verhalten des Betroffenen, wie etwa den Konsum zu verschleiern, zu bagatellisieren oder Ausflüchte zu finden, bedeuten aus Sicht der Angehörigen, belogen, hintergangen oder beschuldigt zu werden. Sie erleben lange - und oft vergebliche - Zeiten des Wartens und Hoffens auf positive Veränderungen. "Dies führt zu einem tiefgreifenden Vertrauensverlust, der eine normale Beziehung erschwert oder unmöglich macht."
Die Suchterkrankung schädigt auf diese Weise nicht nur die Betroffenen, sondern kann auch bei Angehörigen schwere stressbedingte Erkrankungen auslösen. Dazu kommt, dass Angehörige sich häufig aus Scham niemandem anvertrauen. Viele Selbsthilfegruppen haben auf diese Situation reagiert und bieten eigenständige Gruppen für Angehörige an oder aber die Möglichkeit, den Betroffenen in dessen Selbsthilfegruppe zu begleiten.
Die Sozial- und Suchttherapeutin Manuela Koerber ist Ansprechpartnerin für Angehörige von Suchterkrankten. (Foto: Caritas Dortmund)
Eine professionelle Unterstützung finden Angehörige bei der Caritas Dortmund mit dem Angebot "Familien stärken". Seit 2013 wurden in dem erfolgreichen Projekt mehr als 900 Angehörige von Alkohol- und Medikamentenabhängigen sowie Menschen mit Glücksspielproblematik beraten. Die eigens auf diesen Bereich spezialisierte Sozial- und Suchttherapeutin Manuela Koerber bietet vielfältige Angebote an. In Einzelgesprächen mit der erfahrenen Therapeutin können in Ruhe Belastungen geklärt und Lösungen gesucht werden. In den verschiedenen Gruppenangeboten stehen der Austausch mit anderen Angehörigen und die Erfahrung von Solidarität im Zentrum. "Wie gehst du damit um - diese Frage endlich ohne Scham mit anderen besprechen zu können, bedeutet eine große Entlastung", berichtet Manuela Koerber. Dabei wird aber auch die ganze Familie in den Blick genommen, unter besonderer Berücksichtigung minderjähriger Kinder. Mehrmals im Jahr werden Erlebnistage angeboten, an denen nicht die Sucht, sondern Spaß und gemeinsames Erleben im Vordergrund stehen. Alle Angebote können von Angehörigen auch dann wahrgenommen werden, wenn die betroffene Person nicht an die Beratungsstelle angebunden ist.