Amharisch lernen und Freunde fürs Leben finden
Mahlet Teklemariam Desta ist erkältet und nicht ganz fit an diesem Freitag. Zuhause zu bleiben, ist für sie trotzdem keine Option. Sie habe in all den Jahren nur zweimal gefehlt, erzählt die 42-Jährige mit der herzlichen Ausstrahlung, die zu ihrem petrolgrünen Pullover ein rotes Tuch mit blauen Herzen trägt. Mit geübten Handgriffen stellt sie 13 Stühle im Kreis auf und platziert eine Flasche Wasser mit ein paar bunten Plastikbechern auf dem Beistelltisch. Gleich beginnen in den Räumen des Nachbarschaftsvereins Unterliederbach in Frankfurt die nächsten Unterrichtsstunden der äthiopischen Fidel Amharischen Schule, die sie vor 14Jahren mit ihrer Freundin Sofia Reshad gegründet hat und die bis heute von beiden weitergeführt wird. Unterstützt wird das Projekt vom Caritas-Quartiersmanagement Unterliederbach sowie vom Nachbarschaftsverein. Derzeit lernen hier rund 45 Kinder und Jugendliche aus Frankfurt und Umgebung die amharische Sprache in Wort und Schrift kennen.
"Ich merke einfach, wie gut es ihnen tut", begründet Mahlet Desta kurz und knapp die Motivation für ihr lang andauerndes ehrenamtliches Engagement, bevor sie das erste Kind mit der rechten Hand zur Begrüßung abklatscht. Rebeka, die ihre gelbe Mütze und ihren Schal sorgfältig an den Garderobenhaken hängt, geht mit ihren acht Jahren bereits in die Gruppe der Schulkinder, ebenso wie die siebenjährige Lohanna. Trotzdem kommen beide eigens eine Stunde vorher, um noch bei den Kleineren mitzumachen. "Aus Spaß", erklären sie lächelnd. Nach und nach wuseln Kinder im Kita-Alter in den Raum, begleitet von Müttern oder Vätern, die gleich in einem anderen Zimmer warten werden. Mit den ersten Tönen des gemeinsamen Begrüßungsliedes hört das Kichern und Gackern der neun Kinder schlagartig auf. Alle nennen ihre Namen und verbeugen sich. Spielerisch und mit Gesang geht es weiter, werden Augen, Ohren, Nase auf Amharisch bezeichnet. "Ich weiß was", ruft ein kleiner Junge auf Deutsch dazwischen, nennt die Zahlen von eins bis drei und zählt sie dabei an seinen Fingern ab. Von einem Mond, der auf Reisen geht, um seine Freunde zu besuchen und dabei eine Ameise trifft, handelt das äthiopische Bilderbuch, aus dem anschließend vorgelesen wird. Nach ein paar Zeilen wird das jeweilige Bild rundum gezeigt. Die Kinder hören am Anfang gebannt zu, doch dann wird in den Reihen zunehmend getuschelt und gelacht. Desta klappt das Buch zu, lässt Sipara (13), die ebenso wie ihr eigener Sohn Johannan (14) zur Unterstützung mit dabei ist, den bereits gelesenen Inhalt kurz auf Deutsch zusammenfassen.
"Für die Kleinen ist entscheidend, dass sie Spaß haben, dann kommen sie gerne wieder", weiß die temperamentvolle Frau, die bewusst nichts mit Strenge durchsetzen will. Nicht zuletzt deswegen sind der Aufnahme in die Schule, für die eine Warteliste geführt wird, drei Schnuppertage vorangestellt. Außer der Gruppe der Vier- bis Siebenjährigen gibt es zwei Gruppen für größere Kinder, die nach Alter und Lehrplan gestaffelt die 231 Buchstaben, Grammatik und Landeskunde lernen. Ab Grundschulalter werden Noten vergeben und jedes Jahr ein Zeugnis ausgestellt. Die Eltern sind mit Beiräten in den drei Klassen beteiligt und können an Elternabenden Fragen zur Entwicklung ihrer Kinder stellen. Aktuell unterrichtet ein Team von vier Lehrer:innen. In einer vierten Gruppe treffen sich einmal monatlich diejenigen, die die Schule bereits erfolgreich absolviert haben. 2015 schafften drei Jugendliche den Abschluss, sieben Jahre später waren es sechs, die in einer eigenen kleinen Festschrift in Text und Foto vorgestellt wurden, sichtlich stolz und in eigens dafür genähter äthiopischer Tracht.
Dass das bis heute rein ehrenamtlich gestaltete Projekt so groß werden würde, hatten die beiden Gründerinnen nicht ahnen können. In den Anfängen 2010 wollten sie lediglich ihren eigenen und ein paar Kindern aus dem Freundeskreis die Möglichkeit geben, anderen Kindern mit äthiopischem Migrationshintergrund zu begegnen. Das habe sich schnell herum gesprochen und die zwei Frauen begannen, die Sache auf breitere Füße zu stellen. "Wir haben so viel recherchiert und gelesen", berichtet Desta. Tipps kamen auch von ihrer älteren Schwester, die selbst Lehrerin ist. Ein Schwager komponierte sogar zwei Lieder für den Unterricht. Seit sie mit 19 Jahren wegen des Krieges Äthiopien verlassen musste, ist ihre Familie in der ganzen Welt bis nach Australien verstreut. Sie selbst sieht Deutschland als ihre zweite Heimat an ( "Ich liebe Frankfurt!" ), zugleich ist ihr die Weitergabe der Amharischen Sprache und der äthiopischen Kultur ein Herzensanliegen und nach ihrer Überzeugung von großer Bedeutung für die Identitätsfindung.
"Wer bin ich, woher komme ich, warum habe ich eine andere Hautfarbe?" Diese Fragen tauchten früh auf. Wenn die Kinder erstmals in die amharische Schule kämen, seien viele verschüchtert, oft sei so etwas wie Verzweiflung spürbar, weil sie keinen Ort für sich gefunden hätten, hat Mahlet Desta beobachtet. Wie sehr sie von der Schule profitierten, zeige sich meist schon nach wenigen Monaten. "Ich weiß, wohin ich gehe, weil ich weiß, woher ich komme", beschreibt sie den Effekt. Die Kinder zu selbst- und verantwortungsbewussten Menschen zu erziehen, das ist das Ziel. Integration ist allen Beteiligten dabei ein ebenso großer Wert wie die Offenheit für Neues, die Mahlet Desta selbst lebt, und die sie ihren Schüler:innen vermitteln möchte.
"Hier wird eine ganz wertvolle Arbeit geleistet", ist der Vorsitzende des Nachbarschaftsvereins, Oliver Göbel, überzeugt, der die "tolle Kooperation" mit der Schule unterstreicht. Wenn im Stadtteil gefeiert werde, "stehen Eltern und Bekannte mit 30 Leuten auf der Matte, kochen für alle und fragen, wo sie sonst helfen können", berichtet er begeistert. Auf seine Empfehlung hin hat Mahlet Desta am Fortbildungsangebot der Bürger-Akademie teilgenommen. Auch die geplante Vereinsgründung unterstützt er. In Corona-Zeiten hat der Nachbarschaftsverein, der seinerseits Kooperationspartner des Quartiersmanagements des Caritasverbandes Frankfurt ist, der Schule einen Laptop spendiert, damit die Kinder online unterrichtet werden konnten. Auch Quartiersmanager Bernardo Sprung ist voll des Lobes für das Projekt, das er als "große Bereicherung" für den Stadtteil bezeichnet.
In den Klassenräumen schaut Mahlet Destas Tochter Deborah auf einen Sprung vorbei. Die 18-jährige Gymnasiastin ist wie die gesamte Familie stolz auf ihre Mutter und das aufwändige Projekt, das sie neben ihrem Job als Verkäuferin, neben Kindern und Haushalt weiterhin unverdrossen stemmt. "Das sage ich ihr jedes Mal, wenn ich hier bin". Sie selbst habe hier nicht nur Sprache und Kultur gelernt, sondern Freunde fürs Leben gefunden, stellt die junge Frau fest: "Das hier ist viel mehr als eine Schule."Text: Barbara Reichwein