Werkverträge schaffen unwürdige Arbeitsverhältnisse
Arbeit ist für Arbeitslose der Einstieg in den Aufstieg - stimmt das, Frau Herrlich?
Wenn es eine existenzsichernde und langfristige Arbeit ist, dann ja. Aber es kann auch sein, dass Menschen in der Lage zementiert werden, eine Arbeit auszuüben, die nicht ausreicht, um für sich und ihre Familie zu sorgen.
Die Wirtschaft sagt: Flexibilität am Arbeitsmarkt ist wichtig. Wie sehen Sie das?
Grundsätzlich stimmt das. Aber ich sehe da eine Menge Einschränkungen. Nehmen Sie zum Beispiel die Situation von Leiharbeitnehmern: Es wird gern behauptet, Leiharbeit sei der Einstieg in eine Festanstellung, doch häufig fehlt eine dauerhafte Perspektive. Hinzu kommt, dass Leiharbeiter in Betrieben oft die gleichen Aufgaben wie Festangestellte übernehmen, dafür aber deutlich schlechter bezahlt werden. Das ist ungerecht. Es gibt sogar Fälle, in denen Leiharbeiter so wenig verdienen, dass der Staat ihren Lohn aufstocken muss, damit sie nicht unter das Existenzminimum fallen.
Sind durch Leiharbeit reguläre Beschäftigungsverhältnisse bedroht?
Es ist zunächst ein Instrument für Unternehmen, die sehr flexibel auf ihre jeweilige Auftragslage reagieren wollen. Es wurde früher als ein zeitlich begrenztes Instrument propagiert. Unser Eindruck ist allerdings, dass es mehr und mehr zu einem dauerhaften Instrument und damit ausgehöhlt wird, weil es für die Unternehmen häufig finanziell günstiger ist, mit Leiharbeitern zu arbeiten.
Viele Unternehmen lagern Arbeiten über Werkverträge an Fremdfirmen aus – mit dem Effekt, dass die Löhne deutlich gedrückt werden. Wie bewerten Sie das?
Die meisten dieser Werkverträge sind schlicht zu skandalisieren. Zum einen, weil es zu einem unglaublichen Lohndumping kommt. Zum anderen verdrängen Menschen, die auf Basis solcher Werkverträge arbeiten, feste Arbeitsplätze. Ich habe oft den Eindruck, dass ein solches Vorgehen der Arbeitgeber ausschließlich der Gewinnmaximierung dient. Um es deutlich zu sagen: So entstehen menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse.
Welche Folgen hat es auf Dauer für die Volkswirtschaft, wenn zeitlich befristete und sehr schlecht entlohnte Arbeitsverhältnisse zunehmen?
In den vergangenen Jahren hat die Zahl der sogenannten Aufstocker stark zugenommen. Das heißt: Menschen arbeiten zwar in Vollzeit, können von ihren Arbeitserlösen aber nicht mehr leben. Da wird die Verantwortung von den Betrieben auf den Staat verlagert. Das kann, volkswirtschaftlich gesehen, keine gute Entwicklung sein.
In solchen Fällen stockt der Staat ja das Gehalt der Menschen auf. Sie würden also sagen: Durch das Aufstocker-Modell werden Unternehmen subventioniert, die Menschen zu schlechten Konditionen beschäftigen und somit Lohnkosten sparen?
Ja, das ist letztendlich eine dauerhafte Lohnsubvention. Da entsteht ein großer Schaden für die Allgemeinheit. Wenn jemand aufstocken muss, obwohl er 40 Stunden arbeitet oder sogar zwei, drei Jobs gleichzeitig hat, dann kann das nicht gut sein.
Wären Sie deshalb für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes?
Ein gesetzlicher Mindestlohn würde zumindest eine Grenze nach unten einziehen, und das halte ich schon für wichtig. Unternehmen müssten sich dann nicht mehr mit absoluten Billiglöhnen Konkurrenz machen. Das wäre sowohl für die Wirtschaft gut, als auch für die Arbeitnehmer.
Welche Konsequenzen hat es, wenn Menschen ihr Erwerbsleben mit Niedriglohnjobs bestreiten?
Menschen, die ständig im Niedriglohnsektor kleben bleiben, können in vielen Bereichen am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen, weil ihnen das Geld fehlt, etwa für Bildung, Freizeit, Kultur. Es bleibt dann auch nicht aus, dass diese Menschen nach ihrem Erwerbsleben in die Altersarmut rutschen. Womit sollen sie Altersvorsorge betreiben? Sie haben nichts.
Das Problem vieler Langzeitarbeitsloser ist, dass sie keine abgeschlossene Berufsausbildung, mitunter nicht einmal einen Schulabschluss haben. Werden diese Menschen richtig gefördert?Es ist in den vergangenen Jahren geringfügig gelungen, die Zahl der Jugendlichen zu senken, die keinen Hauptschulabschluss haben. Trotzdem sind es noch zu viele. Auch liegt der Schwerpunkt der Arbeitsmarktpolitik darauf, Menschen zurück ins Berufsleben zu bringen, die erst seit Kurzem arbeitslos sind. Es gibt jedoch zu wenig Instrumente, um Menschen richtig zu fördern, nach längerer Arbeitslosigkeit wieder im Berufsleben Fuß zu fassen. Mit der Aktion "Stell mich an, nicht ab!" der Bundesarbeitsgemeinschaft Integration durch Arbeit (IDA) fordern wir eine öffentlich geförderte Beschäftigung, die Menschen den Wiedereinstieg in das Arbeitsleben ermöglicht.
In vielen Branchen erhalten Berufseinsteiger nach ihrer Ausbildung lediglich befristete Verträge. Was bedeutet das für junge Menschen?
Berufsanfängern fällt es zunehmend schwerer, eine unbefristete Stelle zu bekommen und ihre Berufsbiografie dauerhaft selbst zu gestalten. Es wird immer Mobilität gefordert, was grundsätzlich erst mal nicht schlecht ist, aber es muss Menschen auch möglich sein, zum Beispiel eine Familie zu gründen oder sich dauerhaft niederzulassen. Das ist bei befristeten Verträgen deutlich schwieriger. Es gibt befristete Verträge, die nur ein halbes Jahr lang laufen: Wie zufriedenstellend ist ein Leben, wenn ich innerlich immer gewahr sein muss, nach sechs Monaten woanders hinzuziehen, damit ich überhaupt mein Geld verdienen kann?
Das Interview erschien im August 2013 in der Hildesheimer Kirchenzeitung