Geplante Kürzungen im Bundeshaushalt gefährden sozialen Frieden
Im Interview erläutern Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa und Steffen Feldmann, Vorstand für Finanzen und Internationales im Deutschen Caritasverband, welche Konsequenzen die geplanten Haushaltskürzungen der Bundesregierung haben werden.
Die Bundesregierung plant für 2024 einen Konsolidierungshaushalt. Was bedeuten die Pläne das für den Sozialbereich?
Welskop-Deffaa: Wir erleben tatsächlich eine Zeitenwende. Nicht, dass gespart wird, sondern wie gespart werden soll, ist schockierend. Die Regierung nimmt Ankündigungen und Zusagen vor allem dort zurück, wo es Menschen betrifft, denen in ihrem Leben bereits viel zu viel Unsicherheit zugemutet wurde.
Wir sehen dramatische Einschnitte bei den frühen Hilfen, die Kindern aus belasteten Familien den Start ins Leben leichter machen. Und es werden Milliardenlöcher bei der Pflegeversicherung gerissen, obwohl eine älter werdende Gesellschaft deren Mittel dringend braucht. Auch die regulären Programmtitel der Wohlfahrtsverbände werden gekürzt – und das um etwa 25 Prozent! Das bedeutet, dass Caritas und andere Wohlfahrtsverbände wichtige bundesgeförderte Angebote, die Menschen in ihrem Alltag helfen, drastisch zurückfahren müssen. Die Feuerwehr des Sozialen kann ihre Brandmeister nicht mehr bezahlen und keine neuen Löschfahrzeuge anschaffen, genau in dem Moment, wo die Corona-Krieg-und-Klima-Zeit so viele soziale Brandherde entfacht hat.
Können Sie das konkretisieren? Was wird es nicht mehr geben können?
Feldmann: Drei Bereiche sind am härtesten von den geplanten Kürzungen betroffen: Migration und Integration, die digitale Transformation und die Freiwilligendienste.
- Im Bereich der Migration sollen bei Beratungsstellen für erwachsene Einwanderer (MBE) 30 Prozent eingespart werden - mit Kürzungen von 81,5 Millionen Euro in 2023 auf 57,5 Millionen Euro in 2024. Und das, obwohl in 2022 rund 2,7 Millionen Menschen nach Deutschland zugewandert sind. (Bundesweit gibt es 1.285 Beratungsstellen unterschiedlicher Träger. In 2022 wurden in der MBE 315.000 Beratungsfälle gezählt. Zuzüglich der 242.000 mitberatenen Familienangehörigen konnten bundesweit 557.000 Personen erreicht werden.)
- Ähnlich drastische Kürzungen sind auch bei den psychosozialen Zentren und der Asylverfahrensberatung vorgesehen.
- Die Förderung digitaler Transformation der Wohlfahrtsverbände – insbesondere auch der Online-Beratung – ist auf Null gesetzt.
- Und bei den Freiwilligendiensten sollen fast 25 Prozent eingespart werden. Ab 2025 würde jeder dritte Freiwilligenplatz wegfallen. Wir verlieren damit bundesweit ca. 25.000 bis 35.000 junge freiwillig engagierte Menschen.
Die Folgen der Einsparungen z.B. bei Migration und Integration sind drastisch: Ohne ausreichende Mittel können die Stellen der Mitarbeitenden, die Menschen etwa bei ihrem Asylantrag, bei Integrationsbemühungen jeglicher Art wie Sprachkurse, Integrationskurse, Hilfenetze, Bildung und Arbeitsplatzsuche beraten und auch begleiten, nicht mehr finanziert werden.
«Die Kürzungen im Sozialen spielen denen in die Hände, die nicht müde werden, Menschen gegeneinander aufzuhetzen.»
Auch die psychosozialen Zentren, die sich um traumatisierte Flüchtlinge kümmern, werden so nicht mehr zu halten sein. Die Beratungsstellen werden ihre Öffnungszeiten reduzieren müssen und können weniger Termine vergeben. Das Angebot wird also deutlich zurückgehen. Und das nicht nur bei der Caritas, sondern auch bei anderen Wohlfahrtsverbänden. Denn die geplanten Kürzungen betreffen ja alle Wohlfahrtsverbände.
Welche Folgen werden die geplanten Einsparungen im sozialen Bereich haben?
Welskop-Deffaa: Die Menschen werden die Einsparungen vor Ort spüren. Wenn die Jugendmigrationsberatung vom Familienministerium nur noch eingeschränkt weiter finanziert wird, fällt ein bewährtes Programm der Jugendhilfe weg, das jungen Menschen mit Migrationshintergrund „in allen Lebenslagen“ hilft. Ich habe mir in den letzten Jahren mehrere Standorte angeschaut und gesehen, wie lebensnah und präventiv hier Fragen von jungen Menschen verstanden und beantwortet werden – ein Chancenstärkerprogramm mit offenkundigem Mehrwert auch für gelingende Arbeitsmarktintegration.
Anderes Beispiel: Freiwilligendienst. Unsere Einrichtungen, Kitas oder Mutter-Kind-Kurkliniken, werden deutlich weniger junge Menschen im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) und des Bundesfreiwilligendienstes (BFD) beschäftigen können. Auch dies ist ein Abbruch eines bewährten Orientierungsangebots, von dem die jungen Freiwilligen für ihre Lebensplanung, aber auch die Menschen in den Einrichtungen, ungemein profitieren.
Wenn aus finanziellen Gründen die Plätze in den Freiwilligendiensten reduziert werden, bleibt es vielen jungen Erwachsenen verwehrt, sich für andere zu engagieren und ganz persönliche Erfahrungen im sozialen Bereich zu sammeln. Jammerschade. Sie erwerben dort die sozialen Kompetenzen, auf die unsere Gesellschaft so nötig angewiesen ist – gegen die soziale Eiseskälte, die sich auch in Hitzesommern in unsere Alltage schleicht.
Was bedeutet die Kürzung der Mittel für die Digitalisierung? Spielt das für die Wohlfahrtsverbände überhaupt eine so wichtige Rolle?
Welskop-Deffaa: Unser Digitalisierungsprogramm für die Wohlfahrtspflege, das die Bundesregierung kürzlich noch in ihrer Digitalstrategie hervorgehoben hat, erleidet nun auch drastische Kürzungen. Das entbehrt jeder Logik. Ohne digitale Prozesse läuft in unserem Gemeinwesen (fast) nichts mehr. Die öffentliche Verwaltung will viele Leistungen vorrangig digital erbringen. Wir merken, dass heute kaum noch ein Antrag auf Bürgergeld oder andere soziale Unterstützung analog funktioniert.
Während also die Bundesregierung das Verfahren der Kindergrundsicherung zu einem Leuchtturm digitaler Erreichbarkeit entwickeln will, um zu entbürokratisieren und zu vereinfachen, kürzt sie gleichzeitig die aus unserer Sicht komplementäre Förderung der digitalen Infrastruktur der Wohlfahrtsverbände. Ein Widerspruch, der gar nicht zum Anspruch passt, Subsidiarität und Responsivität als Ordnungsprinzipien eines modernen Sozialstaats groß zu schreiben.
Sorgen machen wir uns auch um die Weiterfinanzierung unserer digitalen Suizidpräventionsangebote für junge Menschen [U25]. Es wäre fatal, wenn wir hier zurückrudern müssten.
Sehen Sie Möglichkeiten, diese Kürzungen auszugleichen? Schließlich finanziert sich die Arbeit der Wohlfahrtsverbände nicht nur aus Mitteln des Bundes.
Feldmann: Die Bundesmittel sind in einigen wichtigen Bereichen der sozialen Arbeit eine notwendige finanzielle Grundlage für die Struktur der Beratungs- und Hilfsangebote der Wohlfahrtsverbände. Sie müssen ein verlässlicher Faktor sein, sonst ist eine solide Finanzplanung auch für die Sozialwirtschaft nicht möglich. Schließlich müssen Wohlfahrtsverbände für ihre Dienstleistungen adäquate Mitarbeitende einstellen sowie Gebäude und sonstige Infrastruktur zur Verfügung stellen. Hier braucht es eine Verlässlichkeit auch von Seiten des Bundes, um die immer größer werdenden Aufgaben, die der Staat an Wohlfahrtsverbände überträgt, bewältigen zu können.
Gerade während der Krisen der letzten Jahre konnten sich Staat und Gemeinwesen auf die Arbeit der Wohlfahrtsverbände verlassen. Aber das kann es nicht umsonst geben. Die Verbände gehen ohnehin in Vorleistung, indem sie Infrastruktur und qualifizierte Mitarbeitende vorhalten, um flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren zu können.
Die Arbeit der Wohlfahrtsverbände finanziert sich auch aus Landesmitteln oder kommunalen Geldern, aus Leistungsentgelten von Privatpersonen oder Pflegekassen sowie Krankenkassen (z.B. in der Pflege) sowie Spenden und nicht zuletzt kirchlichen Mitteln. Wohlfahrtsverbände, die nicht gewinnorientiert agieren dürfen, planen naturgemäß in Richtung einer schwarzen Null. Da bleibt kein Spielraum.
Der Deutsche Caritasverband hat definitiv keine Möglichkeiten, diese Kürzungen auszugleichen. Gegebenenfalls müssen Mittel intern umverteilt bzw. reduziert eingesetzt werden. Einsparungen in einer Größenordnung, wie sie die Bundesregierung nun vorsieht, lassen sich nicht kompensieren. Das Resultat wird eine Einschränkung der Leistungen der Wohlfahrtsverbände sein müssen, damit die Sozialwirtschaft nicht in eine finanzielle Schieflage gerät. Das würde gravierende Auswirkungen auf die Situation hilfesuchender Menschen haben, und es würde all denen in die Hände spielen, die nicht müde werden, Menschen gegeneinander aufzuhetzen.