Zwei Kinder im Garten der Wohngruppe „Frida“. Julia Lörcks
Auf einer Skala von 0 bis 10 - wie steht es aktuell um die stationäre Jugendhilfe?
Elke Kotthoff: Ich gebe der stationären Jugendhilfe eine 5 bis 6. Wir stehen vor erheblichen Herausforderungen. Ein zentraler Punkt ist der anhaltende Fachkräftemangel, der die Betreuungskapazitäten einschränkt und die Qualität der Betreuung beeinträchtigen kann. Zudem steigt der Bedarf an Unterstützungsangeboten für Kinder und Jugendliche, während den Einrichtungen gleichzeitig finanzielle Kürzungen drohen.
Tobias Neifeind: Ich bin eher bei einer 4 bis 5. Unser großes Thema ist der Fachkräftemangel und die Stärkung unserer Kollegen und Kolleginnen. Sie sind unsere Superheld:innen, die sieben Tage in der Woche und 24 Stunden am Tag alles in ihrer Möglichkeit stehende für unser fragiles System tun. Dazu kommen immer komplexer werdende Fallstrukturen und zunehmende Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen. Wenn es dann keine Ärzte oder Therapeuten mehr gibt, wir lange Wartezeiten und Wege in Kauf nehmen müssen, dann rappelt es gewaltig im Gefüge.
Wie muss ich mir das konkret vorstellen?
Elke Kotthoff: Die Zahl der Inobhutnahmen steigt. Gleichzeitig fehlen jedoch die notwendigen Plätze und die personellen wie finanziellen Ressourcen, um diesen Bedarfen gerecht zu werden. Dies führt zu einer Überlastung des Systems und gefährdet den Kinderschutz!
Tobias Neifeind: Wir stellen zunehmend auch ein gesellschaftliches Problem fest. Der Druck in den Familien steigt, auch diese Systeme sind überlastet. Leider sind es meist die Kinder, die das schwächste Glied der Kette darstellen. Mit Blick auf die Münze und meine Kollegen und Kolleginnen in den Wohngruppen stellen wir uns dann folgende Frage: Welches Kind kann die Gruppe tragen?
Welche Strategien und Lösungen stellt ihr dagegen?
Elke Kotthoff: Langfristig möchten wir den Personalschlüssel erhöhen. Und wir versuchen neue Kollegen und Kolleginnen besser einzuarbeiten und bestehende besser zu begleiten. Sie sollen fort- und weitergebildet werden. Auch die Gruppenleitungen sollen gestärkt werden. Das ist die eine Seite. Die andere ist die Verbesserung unseres Anfragemanagements sowie eine bessere Kooperation mit den Kostenträgern. Das sind die Jugendämter sowie der Landschaftsverband Rheinland bei der Eingliederungshilfe. Auch möchten wir der Jugendhilfe ein Gesicht geben. Denn trotz schlechter Rahmenbedingungen schaffen wir es, Kindern und Jugendlichen einen sicheren Ort zu bieten. Sie erfahren bei uns soziale Integration und eine starke Gemeinschaft.
Tobias Neifeind: Dank der pädagogischen Leitungen erfährt "Die Münze" in den vergangenen Jahren eine ganz neue Dynamik. Wir haben neue Konzepte, die Wohngruppen haben neue Namen, es gibt viel mehr Angebote für unsere Kollegen und Kolleginnen - von internen Fort- und Weiterbildungen bis hin zum Austausch und der Supervision.
Wie schaut es in Sachen Partizipation aus?
Tobias Neifeind: Auch hier haben wir in den vergangenen Jahren viel geschafft. Es gibt Gruppenabende und das neu installierte Kinderparlament. Zudem feiern wir jährlich den Kinderrechtetag und das Kinderfest. Die Kollegen und Kolleginnen können sich aktiv einbringen, zudem pflegen wir eine transparente und auch wertschätzende Kommunikation.
Wenn ihr einen Wunsch frei hättet, welche wäre das?
Tobias Neifeind: Kollegen und Kolleginnen, die sich mit der Münze identifizieren und sich engagieren - aber auch ohne schlechtes Gewissen zuhause bleiben, wenn das eigene Kind mal krank ist. Dazu bedarf es einer geschlossenen Personaldecke.
Elke Kotthoff: Optimismus. Wenn Fachkräfte gute Rahmenbedingungen haben und junge Menschen ernst genommen werden, dann kann Jugendhilfe ein Ort echter Chancen und positiver Veränderungen werden. Es ist schön zu sehen und es stimmt mich hoffnungsvoll, dass es in der Münze immer noch ein großes Wir-Gefühl gibt. Das gilt es zu stärken.
Zur Person
Elke Kotthoff (51) aus Kleve ist Diplom-Pädagogin. Seit mehr als 25 Jahren arbeitet sie beim Caritasverband Kleve. Hier verantwortet sie seit dem 1. Januar 2022 den Fachbereich Kinder, Jugend und Familie mit 355 Kollegen und Kolleginnen. Seit 2025 ist Elke Kotthoff zudem im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft der Erziehungshilfen (AGE) in der Diözese Münster.
Tobias Neifeind (52) aus Bedburg-Hau ist Sozialpädagoge und systemischer Therapeut. Seit September 2023 ist er Einrichtungsleiter der stationären und teilstationären Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfeeinrichtung "Die Münze" des Caritasverbandes Kleve mit aktuell 63 Kollegen und Kolleginnen. Mit Ausnahme von knapp drei Jahren ist er seit 1999 in der Münze beschäftigt - vom Anerkennungspraktikanten zum Wohngruppenleiter.