Kinderarmut in Deutschland, Hessen und Rheinland-Pfalz
Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Thema Kinderarmut in Deutschland leben bundesweit 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Bedarfsgemeinschaften und damit in Haushalten, die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II/Hartz IV) erhalten oder gelten als grundsätzlich armutsgefährdet. Eine Armutsgefährdung liegt bei jenen Kindern vor, die in Haushalten leben, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median des Haushaltsnettoäquivalenzeinkommens) aller Haushalte beträgt. Damit wächst in Deutschland mehr als jedes fünfte Kind in Armut auf. Insgesamt 142.668 dieser Kinder und Jugendlichen leben in Hessen, 76.282 in Rheinland-Pfalz. Besonders hoch ist der Anteil armer Kinder in den Großstädten. Die höchste Kinderarmutsquote für Hessen wurde für die Stadt Kassel ermittelt: Dort lebten im vergangenen Jahr 26,2 Prozent der unter 18-Jährigen in einer Familie, die auf Sozialleistungen angewiesen war (2014: 23,2 Prozent). Auf Kassel folgen Offenbach, Wiesbaden, Darmstadt und Frankfurt. Im Landesdurchschnitt beträgt die Kinderarmutsquote in Hessen 13,6 Prozent. Für Rheinland-Pfalz ergibt sich ein vergleichbares Bild: Auch hier sind es die Städte, in denen die Kinderarmut besonders groß ist. Den höchsten Anteil der Kinder in Familien im SGB II-Bezug hat in Rheinland-Pfalz die Stadt Pirmasens mit 28,9 Prozent, gefolgt von Ludwigshafen am Rhein und Kaiserslautern. Die Kinderarmutsquote für das gesamte Bundesland Rheinland-Pfalz beträgt 11,6 Prozent.
Individuelle und gesellschaftliche Folgen von Kinderarmut
Aufwachsen in Armut begrenzt, beschämt und bestimmt das Leben von Kindern und Jugendlichen – heute und mit Blick auf ihre Zukunft, so formulieren es die Autoren der Bertelsmann-Studie. Arme Kinder leben häufig in einem sozial isolierten Umfeld und werden früh von Bildung, Kultur, Freizeit und Teilhabe durch Sport ausgegrenzt. Kinder- und Jugendarmut ist immer auch Familienarmut und muss daher im Zusammenhang mit der Situation der Familie betrachtet werden. Kinder und Jugendliche können nichts dafür, wenn sie in armen Verhältnissen aufwachsen. Sie trifft keine Schuld, sie sind nicht für ihr Schicksal verantwortlich! Sie haben auch keine Möglichkeiten, sich selbst aus ihrer Armut zu befreien.
Viele Studien weisen auf die Gefahr hin, dass in jungen Jahren erlebte, länger andauernde Armut weitreichende negative Folgen für die Entwicklungs- und Zukunftschancen junger Menschen hat. Materielle Einschränkungen implizieren Benachteiligungen im Lebensbereich der Bildung und der gesellschaftlichen Teilhabe, verursachen Risiken für die physische und psychische Gesundheit.
Teilhabebarrieren in verschiedenen Lebensbereichen und deren Folgen für die Betroffenen führen häufig zu einer intergenerativen Verfestigung der Armutslage. So bleiben Bildungschancen ungenutzt, die kompetente Beteiligung an sozialen und politischen Prozessen eingeschränkt und der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert – verbunden mit negativen persönlichen, gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Konsequenzen.
Ein Blick zurück, ein Blick nach vorne: Kinderarmut im Vergleich
Die Kinder- und Jugendarmut verharrt seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau, trotz langer Phasen guter wirtschaftlicher Entwicklung und obwohl es in den vergangenen Jahren zahlreiche sozial- und familienpolitische Reformen gab. Die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, die seit 2011 bestehen, sollten beispielsweise Abhilfe beim Thema Kinderarmut schaffen. Wir wissen heute: Viele anspruchsberechtigte Kinder und Jugendliche profitieren überhaupt nicht von den Unterstützungen. In Hessen nahmen beispielsweise im Jahr 2018 lediglich 10,3% der potentiell Leistungsberechtigten finanzielle Hilfen zur Teilhabe am sozialen und kulturellen im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepakets in Anspruch. In Rheinland-Pfalz waren es 7,6%. Kinderarmut ist ein seit Jahren ungelöstes strukturelles Problem in Deutschland. Wovon wir ausgehen müssen: Die Corona- Krise wird die Situation für arme Kinder und ihre Familien noch weiter verschärfen und die Armutsrisikoquote erhöhen. Alleinerziehende Elternteile, Eltern ohne Erwerbsbeteiligung, haupteinkommensbeziehende Personen mit niedrigem Qualifikationsniveau und Personen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit sind grundsätzlich armutsgefährdet. Gerade diese Personengruppen waren in den vergangenen Monaten besonders häufig von Kurzarbeit und Entlassungen betroffen. Die wirtschaftliche Situation dieser Familien verschärft sich derzeit spürbar. Entsprechend leiden die Kinder. Im Zuge der Schließungen von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen bedingt durch den Corona-Lockdown fällt für viele Kinder die dringend benötigte soziale Förderung weg. Betrachtet man das Ergebnis der Bertelsmann-Studie, dass in 13% der Haushalte im SGB II-Bezug ein internetfähiger Computer fehlt, sind die Voraussetzungen für Homeschooling-Phasen für zahlreiche Kinder nicht gegeben. Dies hat negative Auswirkungen auf deren Bildungs- und Teilhabechancen.
Erfahren, was Kinder und Jugendliche brauchen. Eine Offensive gegen Kinderarmut
Die Vermeidung von Kinderarmut muss gerade jetzt politisch Priorität haben. Sie erfordert neue sozial-und familienpolitische Konzepte. Dazu gehören Strukturen für eine konsequente Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Nur so kann es gelingen, die spezifischen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen adäquat zu ermitteln. Darüber hinaus braucht es eine Absicherung der finanziellen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen durch ein Teilhabegeld oder eine armutsfeste Grundsicherung – einer Kindergrundsicherung.
Kinderbezogene Armutsprävention
Bildung für alle – Strategien zur Bildungsteilhabe von sozial benachteiligten Kindern
- Das Armutsrisiko sinkt mit der Erhöhung des Bildungs- und Qualifikationsniveaus. Ziel muss es sein, faire Bildungschancen für alle Kinder zu gewährleisten.
- Die Coronakrise kann dazu führen, dass Kinder in Armutslagen weiter abgehängt werden. Es fehlen oft ruhige Lernorte und der Zugang zu internetfähigen Endgeräten für Homeschoolingphasen. Zahlreiche Fachverbände fordern daher eine finanzielle Aufstockung des Digitalpakts für die Schule und die entsprechende Bereitstellung eines Digitalpakts für die Kita (z.B. KTK-Bundesverband).
- Vor dem Hintergrund des geplanten Ganztagsbetreuungsanspruchs für die Grundschule sind die Bedarfe der Kinder für die Gestaltung von Ganztagsangeboten explizit miteinzubeziehen (Umsetzung der Kinderrechte).
Zusammenwirken im Sozialraum
Die Kommunen stehen der Lebenswirklichkeit betroffener Kinder und Jugendlicher besonders nahe. Im Zusammenwirken mit den Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Kindertagesstätten, Teilen des Gesundheitswesens und auch der politischen Öffentlichkeit fällt ihnen die Aufgabe zu, sensibel und zielgerichtet armutspräventiv und armutsüberwindend einzugreifen.
Der Erfahrungshintergrund sozial benachteiligter Personen ist häufig geprägt von Ausgrenzung. Da besonders die Kindertageseinrichtungen ein Ort des Kontakts aller Eltern und Kinder darstellt und diese in der Lebenswelt der Familien angesiedelt sind, gehört die Weiterentwicklung und die Förderung von Kitas zu Familienzentren zu einer wichtigen armutspräventiven Maßnahme. Der Zugang zu den Angeboten ist für alle Eltern und Kinder sowohl materiell als auch sozial niederschwellig.
„Frühe Hilfen" stärken durch eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Geburtshilfe, Jugendhilfe und Familienbildung nachweislich die Ressourcen aller Familien. Auch hier können aufsuchende Angebote in der Kita/dem Familienzentrum die Annahme erleichtern.
Pflege eines armutssensiblen Verhaltens
Ein breites Inklusionsverständnis und das Wissen über die Dimensionen von Vielfalt verhindert die Fokussierung auf einen Lebensbereich und nimmt Armut differenzsensibel wahr als eine Facette der persönlichen Merkmale, des Entwicklungsstandes, der Begabungen und Interessen des Kindes selbst und als Teil einer heterogenen Gruppe. Jugendämter, Kindertagesstätten und Schulen stellen Räume dar, in denen sich soziale Lebenslagen vermitteln. Die Finanzierung von entsprechenden Fort- und Weiterbildungen für Mitarbeitende in diesen Strukturen scheint die erfolgreiche Armutsprävention und Maßnahmen zur Überwindung von Armut bei Kindern und Jugendlichen zu bedingen.
Selbstwirksamkeitserfahrung ermöglichen
Das soziale Umfeld wirkt in zweifacher Weise auf die Entwicklungschancen der Kinder ein: Durch die direkte Erfahrung mit den zur Verfügung stehenden materiellen Mitteln einerseits und durch die Verinnerlichung von sozialen Umgangs- und Bewältigungsformen in dieser Lebenslage andererseits. Pädagogische Handlungsansätze müssen daher auch mentale Verarbeitungspotenziale in den Blick nehmen, da ein positives Selbstkonzept in krisenhaften Lebenslagen ein wesentlicher Schutzfaktor ist und problemlösende Bewältigungsmuster begünstigt. Persönlichkeitsbildende Angebote in Kindertagesstätten, bei der Frühförderung und in der Grundschule sind Ausgangspunkt für eine sukzessive Veränderung von Einstellungen und Handlungsmöglichkeiten und damit für die Chance, den Armutskreislauf zu durchbrechen.