Die Caritas steht nicht zum ersten Mal am öffentlichen Pranger wegen ihrer Lohnpolitik. Dabei zahlt sie mit die höchsten Gehälter in der Branche. Hanno Heil erklärt, wie Pflegekonzerne und Politik die kirchliche Wohlfahrt in die Zange nehmen. Er meint jedoch: Faire Löhne sind möglich. Vallendar (epd).
Die hohen Wogen des Streits um den allgemeinverbindlichen Tarif in der Altenhilfe ebben inzwischen ab. Sie hinterlassen bei den caritativen Dienstgebern eine Spur der Zerstörung: Image, Glaubwürdigkeit und Vertrauen wurden stark beschädigt. Aber warum gerade bei den Dienstgebern, die seit Jahren die beste Vergütung in der Altenhilfe bezahlen? Die Gründe dafür sind komplexer, als offenbar in wenigen Minuten einer Satireshow oder auf einer Kampagnen-Webseite darstellbar. Auch eine seitenlange, sozialethische Stellungnahme katholischer Sozialethiker hat bei vielen Caritasverantwortlichen nur Kopfschütteln und teilweise massive Entrüstung hervorgerufen. Sie fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt, diffamiert, belehrt und beschimpft. Und vor allem haben sie den Eindruck, dass die Debatte völlig am Kern der Auseinandersetzung vorbeilief.
Keine Produktivitätssteigerungen erzielbar
Das Ärgernis zu niedriger Löhne in der Altenhilfe ist nicht neu. Es hat zu tun mit dem alten Thema Gendergerechtigkeit (mehr als 80 Prozent der Beschäftigten sind Frauen). Hinzu kommt das in der Ökonomie als "Baumolsche Kostenkrankheit" benannte Phänomen, dass Pflegeleistungen nur in geringem Maße durch den Einsatz von Kapitalgütern produktiver gemacht werden können. Wenn in anderen volkswirtschaftlichen Sektoren Produktivitätssteigerungen erreicht werden, steigen dort die Löhne. Solche Produktivitätssteigerungen sind bei vielen Dienstleistungen, etwa auch bei einem Symphonieorchester, nicht erzielbar. Mit dem Symphonieorchester hat die Altenpflege gemeinsam, dass sie durch Beschleunigung oder Wegrationieren von Stellen bei sinkenden Kosten ihre Qualität nicht halten kann. Wer will Beethovens 9. Symphonie in der halben Zeit mit der Hälfte der Musiker hören? Aber so spielt die Musik inzwischen in vielen Pflegeheimen.
Es kommt ein weiterer Faktor hinzu: Seit den 1980er Jahren ist der Politik und der Öffentlichkeit bekannt, dass die demografische Entwicklung zu einem steigenden Bedarf an Pflegeleistungen führt. Die Antwort auf diesen Effekt war im Jahr 1995 die Einführung der Pflegeversicherung. Bewusst wurde die Altenpflege damals marktförmig konstruiert. Denn man erhoffte sich von der Neuordnung auch eine Reduzierung der Kosten bei steigenden Bedarfen.
Tariflöhne wurden zum unbezahlbaren Luxus
Was jedoch auf diesem "Markt" von Anfang an nicht funktionierte, war die Idee einer marktförmigen Lohnfindung. Während die Unternehmen der Wohlfahrtspflege mit Vergütungen und Arbeitsvertragsregelungen, die an die öffentlichen Tarife angelehnt waren, in diesen Markt gingen, setzten die neu in den Markt eintretenden privaten Anbieter auf "Haustarife". In einer Branche, deren Kosten zu 70 bis 80 Prozent aus Lohnkosten bestehen, lag hier der Schlüssel zum (Rendite-)Erfolg der privaten Anbieter. Nach und nach gingen sie auf Einkaufstour, um kommunale und wohlfahrtsverbandliche Einrichtungen zu übernehmen und errichteten einen Neubau nach dem anderen. Der Politik, der Pflegeversicherung und den Kommunen war diese Entwicklung nur recht. In den Pflegesatzverhandlungen wurde anhand des "externen Vergleichs" ein regionaler Mittelwert der Kosten errechnet. Die Tariflöhne der wohlfahrtsverbandlichen Anbieter wurden damit zum "Luxus", der nicht mehr in Gänze refinanzierbar wurde.
Über viele Jahre musste die Caritas prozessieren, bis sie durch ein Urteil des Bundessozialgerichts (Urteil vom 16. Mai 2013, Az.: B 3 P 2/12 R) erreichen konnte, dass tariflich ausgehandelte und vereinbarte Löhne in Pflegesatzverhandlungen als wirtschaftlich anerkannt werden müssen. Bis dahin musste sich die Caritas von manchen Einrichtungen, u.a. in Niedersachsen und Bremen trennen. Die Dienstnehmervertreter waren nicht bereit, ein an den Werten des externen Vergleichs orientiertes Lohnniveau zu akzeptieren. Nach dem Verkauf mussten die Mitarbeitenden die niedrigeren Löhne hinnehmen, und die Öffentlichkeit entrüstete sich über die Caritas, die dies "ermöglichte".
Dieses durch politische Untätigkeit begleitete "race to the bottom" führte zum bösen Erwachen, als für die sinkenden Löhne in der Pflege immer weniger Frauen und Männer sich "den Rücken krumm machen" wollten. Mit dieser Erkenntnis setzte ein bemühtes Hantieren an den Tarifschrauben an. Allerdings verschloss man die Augen davor, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Altenpflegebranche äußerst niedrig ist. Die meisten Mitarbeitenden waren sich intuitiv darüber im klaren, dass mit Streiks in dieser Branche keine höheren Löhne gegenüber den Arbeitgebern erkämpft werden könnten.
300 Euro weniger als bei der Caritas
Das einzige, was die Politik der Ausbreitung von Dumpinglöhnen in der Altenpflege entgegensetzen konnte, war die Einführung eines Mindestlohnes. Aber mit diesem letzten Damm gegen den Abwärtstrend lässt sich kein gerechtes Lohnniveau für die gesamte Mitarbeiterschaft in einer Branche herstellen. Die Löhne in der Altenpflege differieren weiterhin zwischen einem Lohnniveau, das sich in die Nähe von Industrieberufen bewegt (Caritas AVR) und dem Durchschnitt anderer Anbieter, die ihren Pflegefachfrauen und -männern im Durchschnitt 300 Euro weniger als die Caritas zahlen. Bei Hilfskräften beträgt die Differenz sogar 500 bis 900 Euro monatlich (Tarif Westdeutschland). Wohlgemerkt im Durchschnitt, bei einzelnen Einrichtungen liegt das tatsächliche Lohnniveau noch darunter.
Mit dem Mindestlohn war dem "Pflegenotstand" aber nicht abzuhelfen. Er vergrößerte sich weiter aufgrund von (Fach-)Personalmangel und Versuchen, ihm durch Beschleunigung der Pflegetätigkeiten (Minutenpflege) entgegenzutreten - was sich gerade in der Corona-Krise als dramatische Fehlsteuerung erwies. So musste die Politik erneut tätig werden. Das neue Kaninchen, das aus dem Hut gezaubert wurde, war der allgemeinverbindliche Tarif für die Altenpflege.
Bei diesem Konstrukt wird die Fiktion eines tariflichen Lohns dadurch erzeugt, dass man einen kleinen Arbeitgeberverband gründet, um mit den gewerkschaftlich organisierten Mitarbeitenden einiger Einrichtungen, die der politischen Partei der "Erfinder" dieses Konstrukts zum Teil nahestehen (AWO), einen Tarif abzuschließen. Dieser soll dann durch Rechtsverordnung für die gesamte Branche als verbindlich erklärt werden. Die Rechtskonstruktion setzt jedoch voraus, dass die diakonischen und caritativen Tarifparteien "mitspielen". Sie sollen sich in ein "Spiel" hineinziehen lassen, das auf ihre Entlohnung keinen Effekt haben soll, da der Tarif, der durchgesetzt werden soll, nur ein "mittelmäßiger" ist - zwischen den Tarifen der konfessionellen Anbieter und den Dumping-Haustarifen der privaten Anbieter. Die konfessionellen Tarifparteien werden damit zu "Rettern" der Pflegebranche stilisiert, welche die Verantwortung für das gesamte Lohnniveau der Branche übernehmen sollen. Und weil sie genau dies verweigert haben, stehen sie jetzt als "Spielverderber" am Pranger.
Rechtsstreit durch alle Instanzen
Dabei haben sie einfach nur keine "gute Miene zum bösen Spiel" gemacht. Durch den externen Vergleich "gebrannte Kinder" wissen sie, welche starken Interessen auf Dauer Druck auf ihre Vergütungsregelungen ausüben würden, die dann die "einsame Spitze" über dem allgemeinverbindlichen Tarifniveau wären. Sie sind sich auch darüber im Klaren, dass mit einem allgemeinverbindlichen Tarif für die Altenpflege das Spiel noch lange nicht zu Ende gewesen wäre. Die großen privaten Pflegeverbände haben seit langem angekündigt, dass sie sich nicht kampflos dem Diktat einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung unterwerfen würden. Die Rechtsgutachten liegen schon in den Schubladen. Ein Rechtsstreit durch alle Instanzen wäre zu erwarten gewesen.
Denn warum sollten sich internationale Pflegekonzerne ihr Geschäftsmodell durch eine solche Konstruktion beschädigen lassen, die sich mit dem Aushandeln von Tarifen in einer kleinen Nische begnügt, um sie dann der ganzen Branche überzustülpen? Diese Anbieter gehen weiterhin von der Marktlogik und entsprechenden Aushandlungsmechanismen aus. Mit ihrer Sichtweise ist ein solcher "Zwangstarif" für die gesamte Branche nicht zu vereinbaren. Und die Frage, welcher Logik die Gerichte, spätestens auf europäischer Ebene, folgen würden, wäre durchaus offen.
Und genau hier liegt der zentrale Kern der Auseinandersetzung. Möchte die Politik weiterhin an der Fiktion eines Marktes festhalten, den man zwischen freiem Wettbewerb und staatlicher Regulierung oszillieren lässt, ohne die Rahmenbedingungen klar zu definieren? Eine solche Definition steht weiterhin aus. Ein Vorschlag, wie man diese Rahmensetzung des Pflegemarktes erreichen könnte, liegt mit dem Modell der GemeinwohlÖkonomie (GWÖ) vor. Diese setzt ebenfalls auf die Marktkräfte, will sie aber ethisch einhegen.
Versorgungsvertrag setzt Tariflöhne voraus
Dies geschieht anhand einer Gemeinwohl-Matrix, die die Werte des Gemeinwohls in eine Beziehung zu den Berührungsgruppen des Unternehmens setzt. In dieser Matrix führt der Wert der Gerechtigkeit in Bezug auf die Mitarbeitenden zur Notwendigkeit, einen gerechten Lohn zu definieren, der selbstredend einer tariflichen Aushandlung bedarf. Unternehmen, die einen solchen paritätisch ausgehandelten Lohn zahlen, würden nach der Idee der GWÖ im Wettbewerb bevorteilt. Der Vorschlag der Caritas, dass der Gesetzgeber bestimmt, dass die Pflegeversicherung nur mit Unternehmen, die paritätisch ausgehandelte Flächentarifverträge vorweisen können, Versorgungsverträge schließen darf, liegt auf dieser Linie.
Um sich einer ethischen Steuerung des Pflegemarktes mit dem Instrument der Gemeinwohl-Ökonomie zuwenden zu können, ist aber zunächst die Erkenntnis nötig, dass die klassischen Instrumente der Marktsteuerung in dieser Branche nicht greifen und funktionieren. Hier nur zwei weitere Beispiele für diese These: Nach der klassischen Marktlogik hätten die Caritas-Dienstgeber mit der Zustimmung zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung eine ideale Gelegenheit gehabt, ihre privaten Mitbewerberinnen aus dem Feld zu schlagen. Die Erhöhung der Personalkosten hätte das Geschäftsmodell dieser Gruppe erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Aber die Caritas "tickt anders". Sie denkt nicht daran, "Profit zu schlagen", indem sie andere Einrichtungen in den Ruin zu treibt oder in einer Skalierungslogik reihenweise übernimmt.
Nicht monetäre Motive
Und sie ist mit diesem "anderen Denken" ein sehr begehrter Anbieter von Pflegeleistungen - mit dem Paradox gleichzeitig hoher Preise und hoher Nachfrage. "Geiz ist geil" ist offenbar nicht das ausschlaggebende Motiv für Menschen, die Pflegeplätze für ihre Angehörigen suchen.
Das zweite Beispiel: Nach der klassischen (Arbeits-)Marktlogik würden Pflegekräfte immer zu dem Anbieter mit höheren Löhnen wechseln. Das tun sie auch zum Teil. Aber ein großer Teil der Mitarbeitenden - und das sind überwiegend Frauen - verbleibt beim Arbeitgeber wegen Ortsgebundenheit, privater Sorgeverpflichtungen für Kinder und Eltern, aus Solidarität mit den gepflegten Personen und anderen Gründen, die nicht monetärer Art sind.
Es hilft deshalb nicht weiter, die Definition des Marktes der Altenpflege weiterhin in der Schwebe zu lassen ("Quasimarkt"). Die Politik muss sich dazu durchringen, eine deutlichere ethische Rahmung dieses Marktes zu setzen. Die Werkzeuge liegen bereit. Wer greift zu?
Hanno Heil ist Lehrbeauftragter für Pastoraltheologie und Diakonische Theologie an der Hochschule Vallendar