Zwei Pflegepraktikerinnen berichten
In Pflegeeinrichtungen entstehen manchmal neue Partnerschaften. Menschen mit Demenz können Sexualität anders erleben oder ausdrücken, was Angehörige irritiert.Foto: Rawpixel.com | stock.adobe.com
Caritas in NRW: Ist das Thema Sexualität im Alter - und damit auch in Seniorenheimen - ein Tabuthema?
Anna Direktor: Nein, wir gehen ganz offen damit um. Denn das Wichtigste im Konzept unserer Stiftung ist die Selbstbestimmung. Wir freuen uns, wenn Menschen sich finden - auch und besonders demente Bewohnerinnen und Bewohner -, weil jeder Mensch Liebe, Zuwendung und Zärtlichkeit braucht.
Caritas in NRW: Woran erkennt denn eine Pflegekraft, dass eine Bewohnerin oder ein Bewohner ein sexuelles Bedürfnis hat?
Anna Direktor: Unsere Pflegekräfte sind in der Beobachtung durchweg gut geschult. Es geht ja nicht immer nur darum, einen hohen Blutdruck oder eine Wunde zu erkennen, sondern auch seelische Bedürfnisse.
Caritas in NRW: Viele Bewohnende gehören zu einer Generation, bei der dieses Thema nicht unbedingt sprachfähig ist. Ich nehme an, dass sie das Bedürfnis vielleicht nicht verbal äußern. Wie werden Ihre Kolleginnen und Kollegen darauf aufmerksam?
Anna Direktor: Bei orientierten Bewohnerinnen und Bewohnern wird das Thema meist nicht offen angesprochen, bei demenziell veränderten Personen schon eher. Oft haben sie eine herabgesetzte Schamgrenze und zeigen Gefühle und den Wunsch nach körperlicher Nähe viel offener. Manchmal sprechen sie das auch direkt an: "Kannst du mich umarmen?" zum Beispiel.
Caritas in NRW: Bei Menschen, die demenziell verändert sind, ist ja unter Umständen gar nicht so einfach zu erkennen, ob eine Annäherung im gegenseitigen Einvernehmen geschieht, oder?
Susanne Sponsel: Doch, es ist im Grunde genommen egal, ob jemand eine demenzielle Veränderung hat oder nicht. Auch wenn zwei demenziell veränderte Menschen beteiligt sind und einer das nicht möchte, wird er oder sie das auf jeden Fall signalisieren. Außerdem sind unsere Pflegekräfte so weit geschult, dass sie diese Zeichen erkennen. Im Team besprechen wir solche Fälle und können angemessen reagieren.
Caritas in NRW: Bekommen Ihre Kolleginnen und Kollegen spezielle Schulungen, damit sie wissen, wie sie mit solchen Situationen umgehen sollen?
Susanne Sponsel: Wir haben einen sehr umfangreichen Fortbildungsplan entwickelt. Gerade was das Thema Demenz betrifft, haben wir einen starken Fokus darauf gelegt, Bedürfnisse von demenziell erkrankten Menschen zu erkennen. Dazu gehören ja auch sexuelle Bedürfnisse.
Caritas in NRW: Wie gehen Sie damit um, wenn Heimbewohner oder Heimbewohnerinnen gegenüber Ihren Mitarbeitenden übergriffig werden? Wie helfen Sie diesen, sich einerseits selbst zu schützen, aber auch den Menschen im Blick zu behalten?
Anna Direktor arbeitet als Pflegedienstleiterin im Altenheim St. Ludgeri-Stift in Essen-Werden. Susanne Sponsel ist dort Qualitätsmanagerin und Präventionsbeauftragte.Foto: Christoph Grätz
Susanne Sponsel: Das haben wir gerade heute im Rahmen einer Präventionsschulung besprochen. Zusammen mit der Pflegedienstleitung der Tagespflege habe ich ein Konzept zum Umgang mit Gewalt allgemein und zum Umgang mit sexualisierter Gewalt entwickelt. In diesem Konzept geben wir Verhaltenstipps, erklären Anzeichen und den Umgang damit und welche Hilfsmaßnahmen geboten sind.
Caritas in NRW: Was wären das für Maßnahmen?
Susanne Sponsel: Ganz wichtig ist erst mal, Anzeichen ernst zu nehmen und weiterzugeben - also Vorfälle, die man sieht, nicht für sich zu behalten, sondern in einem vertrauten Rahmen anzusprechen. Das geht entweder über die Präventionsbeauftragten oder über die zuständigen Leitungen und wird vertraulich behandelt.
Caritas in NRW: Gerne hätte ich mit jemandem aus Ihrer Einrichtung gesprochen, der sich vielleicht hier im Ludgeri-Stift verliebt hat.
Anna Direktor: In der Vergangenheit hatten wir zwei demente Bewohnende - einen Mann und eine Frau, die sehr viel Zeit zusammen verbracht haben. Wir haben das als Team mit Respekt behandelt und begleitet. Die Dame hat den Herrn in seinem Zimmer besucht. Dann haben wir die Tür zugemacht und darauf geachtet, dass die beiden ungestört blieben. Die Angehörigen wurden informiert und waren auch einverstanden. Das waren wirklich schöne Zeiten für die beiden. Sie haben sich gegenseitig umarmt und geküsst. Das war richtig schön anzusehen, und niemand hat sich daran gestört.
Caritas in NRW: Ich kann mir vorstellen, dass viele Angehörige eher reserviert oder sogar ein bisschen schockiert reagieren, wenn auf einmal der betagte Papa oder der Opa erkennen lässt, dass er durchaus noch ein sexuelles Interesse hat. Wie reagieren Angehörige darauf?
Anna Direktor: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Angehörige, die sagen: "Um Gottes willen, mein Vater doch nicht! Schicken Sie meinen Vater bitte ins Zimmer und schließen Sie die Tür ab." Es gibt aber auch positive Beispiele wie das eines älteren Herrn, der bei uns gewohnt hat. Er war dement, hatte aber noch einen starken sexuellen Trieb. Wir haben mit der Tochter darüber gesprochen, die daraufhin eine Sexualtherapeutin eingeladen hat, die ihren Vater besucht hat. Nach dem Besuch war er wirklich ausgeglichen. Auch das Pflegeteam war zufrieden, und die Tochter hat sich für ihren Vater gefreut.
Caritas in NRW: Es gibt ja professionelle Anbieter sexueller Dienstleistungen, professionelle Berührerinnen, Sexualbegleiterinnen, die dafür sorgen, dass dieses Bedürfnis nach Nähe, nach Zärtlichkeit, vielleicht auch nach Sex durchaus befriedigt wird. Wie stehen Sie dazu?
Susanne Sponsel: An dem Tag, als die Sexualtherapeutin kam, hatte ich Dienst. Wir waren natürlich alle neugierig: Wie sieht diese Frau wohl aus, und in welcher Kleidung kommt sie? Und dann kam eine Dame, die eher aussah wie eine Lehrerin, also völlig normal und sehr sympathisch. Sie hat dann mit Vater und Tochter ganz entspannt in der Wohnküche ein Vorgespräch geführt. Es war eher so, dass wir Pflegenden in dieser Situation etwas unsicher waren; das war neu. Letzten Endes war es aber für alle völlig okay.
Caritas in NRW: Vielleicht sollte man das in der Umgebung eines Altenheims durchaus auch mal zulassen, dass eine sexuelle Dienstleistung in Anspruch genommen wird. Was meinen Sie?
Anna Direktor: Ich sehe da überhaupt keine Probleme, weil das für mich zum Selbstbestimmungsrecht eines Menschen dazugehört. Menschen dürfen ihr Leben leben mit allem, was dazugehört. Sexualität ist da keine Ausnahme.
Susanne Sponsel: Auch im Altenheim geht das Leben weiter. Ich gebe ja nicht am Tag meines Heimeinzugs an der Tür alle meine Bedürfnisse ab und beschränke mich auf Essen, Trinken und Schlafen, sondern ich komme als ganzer Mensch hierhin.
Die Fragen stellte Christoph Grätz.