"Wir haben gelernt, bescheiden und sparsam zu sein"
Kaffee-Treff im Annahaus in Bergisch Gladbach: Jeweils montags treffen sich hier bis zu einem Dutzend Damen aus der Nachbarschaft.Foto: Jo Schwartz/Diözesan-Caritasverband Köln
Brigitte M. ist aufgebracht. Zehn Euro mehr Miete im Monat verlangt die Wohnungsbaugesellschaft. Vor einigen Tagen kam der Brief mit der Ankündigung einer Mieterhöhung. Statt 470 soll sie künftig 480 Euro zahlen, kalt. Dazu kommen noch Strom, Heizung und Wasser. "Das spare ich mir vom Essen ab", sagt die 81-Jährige trotzig in Richtung ihrer elf Jahr älteren Tischnachbarin. Ihre Wangen sind vor Aufregung ganz rot. "Ich habe der Erhöhung zugestimmt, aber nur, weil ich keine Scherereien will. Die habe ich schon genug."
Die Nachbarin, Ursula R. (92), zieht die Brauen hoch, hat Verständnis für die Aufregung: "Das ist viel, wenn man eh nicht viel hat." Brigitte M., seit 1975 Witwe, muss mit knapp 900 Euro Rente im Monat auskommen. Zu wenig, um sich etwas zu gönnen, zu viel, um Grundsicherung beantragen zu können. Nach Abzug von Miete, Nebenkosten und Ausgaben für Arzneien - allein 50 Euro im Monat für Herzmedikamente - bleiben ihr 50 bis 60 Euro in der Woche zum Leben. Das hat sie ausgerechnet.
Ursula R. – die 92-Jährige ist die Älteste in der Runde.Foto: Jo Schwartz/Diözesan-Caritasverband Köln
Vier- bis fünfmal in der Woche schiebt sie ihren Rollator die gut 100 Meter über die Schmidt-Blegge-Straße in Bergisch Gladbach zur Caritas. Hier, in der Begegnungsstätte Annahaus, trifft sie betagte Damen und manchmal auch einige Herren aus der Nachbarschaft. Die meisten zwischen 80 und Anfang 90. Das Annahaus serviert mittwochs und freitags ein warmes Mittagessen, den Eintopf für 4,50 Euro, das Menü für 5,50 Euro. Donnerstags gibt’s Frühstück und heute - am Montagnachmittag - Kaffee und Kuchen. Rund 50 Seniorinnen und Senioren aus der Umgebung nutzen regelmäßig die Angebote des Annahauses.
Diesmal sind sechs Damen gekommen, sie alle verbindet: Ihre Männer sind zum Teil schon vor Jahren verstorben - und das Geld wird bei vielen von ihnen zum Monatsende knapp.
Für immer mehr Menschen in Deutschland reicht die Rente nicht zum Leben: Fast 1,1 Millionen Personen bezogen Ende 2018 Grundsicherung im Alter, teilt das Statistische Bundesamt mit. 2005 waren es nur gut halb so viele. Anspruch auf Grundsicherung hätten noch weit mehr Menschen. Allein: Viele schämen sich für ihre Armut und verzichten auf den Weg zum Amt.
Scham spielt auch bei den Damen an der Kaffeetafel eine Rolle. Keine von ihnen bezieht Grundsicherung. "Wir haben gelernt, bescheiden und sparsam zu sein", sagt Irmgard W., und sofort pflichten die anderen Damen der 85-Jährigen nickend bei. Alle erinnern sich an schlimme Zeiten, den Krieg, zerstörte Städte, Hunger. Zwei der Frauen flüchteten nach Kriegsende aus Schlesien in den Westen Deutschlands. "Ich habe alles erlebt", sagt Brigitte G. (82), "Tieffliegerangriffe auf der Flucht im Viehwaggon, Leichen, die neben der Bahnstrecke lagen. Als ich acht Jahre alt war, stand ich mit meiner Mutter auf einer Wiese in Bayern, und niemand wollte uns aufnehmen." Je älter sie werde, desto präsenter werde die Kindheit wieder, sagt sie. "Aber manchmal denke ich, ich klage auf hohem Niveau. Wir sind doch bisher mit allen Sachen fertiggeworden!"
Brigitte G. (82) kam 1945 als Achtjährige aus Niederschlesien nach Westdeutschland. Die Flucht wird sie nie vergessen.Foto: Jo Schwartz/Diözesan-Caritasverband Köln
Das Leben habe sie robust gemacht, meint auch Brigitte M. - die schlimmen Erfahrungen, etwa der frühe Tod ihres Mannes, hätten sie abgehärtet. Und Ursula R. pflichtet ihr bei: "Wer nur die fetten Jahre kennengelernt hat, also die Geburtsjahrgänge ab 1960, der tut sich doch viel schwerer, wenn es mal nicht so läuft." Was Altersarmut angehe, habe sie viel mehr Angst um ihre Tochter, die auch schon über 60 sei, als um sich selbst.
Christel S. ist 85 und hat sieben Kinder großgezogen, drei sind bereits gestorben. Für eine richtige Ausbildung war nie Zeit. Eine Zeit lang arbeitete sie im Haushalt einer Industriellenfamilie, doch mit dem ersten Kind blieb sie zu Hause. Heute habe sie eine "sehr kleine Rente", wie viel, möchte sie nicht sagen. "Es reicht, um über die Runden zu kommen." Ihr jüngster Sohn helfe ihr bei den Einkäufen. Gelegentlich, sagte sie, "gönne ich mir etwas. Dann gehe ich essen in ein kleines türkisches Restaurant." Mehr sei aber nicht drin.
Alle Frauen haben Kinder und Enkel, einige auch Urenkel. Zu den Gewohnheiten ihrer Generation gehört: Die klassische Rollenverteilung wurde selten hinterfragt. Der Mann verdiente das Geld, machte Karriere, die Frau blieb zu Hause, kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Die Folge: eine manchmal winzige Rente. Immerhin: Wo das Geld fehlte, sprang die Familie ein, erzählen die Damen.
"Der Zusammenhalt innerhalb der Familie war immer gut und ist mir ganz wichtig", sagt Ursula R., die 92-Jährige. Der helfe über manche schwierige Situation hinweg, etwa als vor einigen Jahren ihre Tochter starb. Ihr Eindruck ist, dass heute nur noch der Einzelne zählt. "Jeder möchte sich nur noch selbst verwirklichen. Läuft es dann aber schief, fehlt die Familie, die einen auffangen kann."
Irmgard W. (85) sagt von sich, dass sie gelernt habe, sparsam zu sein. Heute helfe ihr das mit einer kleinen Rente.Foto: Jo Schwartz/Diözesan-Caritasverband Köln
Und der Staat, sollte der nicht einspringen, wenn es finanziell eng wird? "Wir können uns nicht immer auf den Staat verlassen", sagt Ursula R. Die Grundrente zum Beispiel - ja, die sei gut, "aber die darf den Leuten doch nicht einfach so ohne Voraussetzung ausgezahlt werden", meint Brigitte M., die 81-Jährige. "Wer Unterstützung möchte, der muss dafür auch was tun."
Vor fünf Jahren, erzählt sie, habe sie sich die Zähne machen lassen müssen. Ein vierstelliger Betrag wurde fällig - als Zuzahlung. Mit dem Zahnarzt vereinbarte sie eine Ratenzahlung, der räumte ihr sogar einen Rabatt ein. Es reichte trotzdem nicht. Also ging sie mit 75 noch einmal arbeiten. Sie jobbte in einer Wäscherei. Es wirkt, als sei sie sogar etwas stolz darauf - es aus eigener Kraft geschafft zu haben.
Heute würde sie nicht mehr arbeiten können. Deshalb wurmt sie die Mieterhöhung um zehn Euro auch so. Stärker als vor einigen Jahren achtet sie jetzt beim Einkauf auf Sonderangebote. "Ich habe keine andere Wahl. Ich bin nicht mehr so frei."