"Wichtig sind konkrete Vorschläge"
Was schreiben wir jetzt in die Dokumentation, damit die Prüfer zufrieden sind? Solche Überlegungen entlarven die Verlogenheit des Systems.Ingeborg F. Lehmann
Caritas in NRW: Kann man eine Grenze definieren, ab der die Kosten und der Aufwand für Bürokratie höher sind als die Erträge (in Form von Standardisierung, Transparenz, Verwaltungsgerechtigkeit ...)?
Wolf-Michael Catenhusen: Wichtig und lohnenswert ist es zunächst, Kosten und Aufwand einer bestehenden oder geplanten Regelung unter Einbeziehung der Betroffenen möglichst realitätsnah zu ermitteln und damit objektiv und transparent zu machen. Solche Kostenschätzungen müssen nach dem Normenkontrollratsgesetz schon bei der Vorbereitung eines Gesetzentwurfs vorgenommen werden, damit sie nicht erst bei der Umsetzung erkennbar werden. Die Unterstützung und Kontrolle dieses Prozesses sind eine wesentliche Aufgabe des Normenkontrollrats. Aufgabe der Politik ist es dann, zu klären, ob dieser Aufwand durch die Zielsetzung des Gesetzes gerechtfertigt ist. Die transparente Darstellung der Kosten setzt die Politik unter einen höheren Rechtfertigungsdruck und wirft die Frage nach Grenzen des Zumutbaren auf. Vor allem müssen die Kosten für die Umstellung auf neue Verwaltungsverfahren und die durch die neue Praxis entstehenden Einsparungen sinnvoll gegeneinander aufgewogen werden. Grenzen des akzeptablen Bürokratieaufwands müssen in jedem Einzelfall ermittelt werden.
Caritas in NRW: Bürokratieabbau gilt als Zauberwort in Sonntagsreden von Politikern. Gibt es konkrete Erfolge?
Wolf-Michael Catenhusen: Bürokratiekosten als Kosten aus sog. Informationspflichten sind seit 2006 eindeutig definiert. Auf dieser Basis hat das Statistische Bundesamt die Bürokratiekosten gemessen, die durch Bundesrecht für die Wirtschaft entstehen. Sie beliefen sich im Jahr 2006 auf rund 50 Milliarden Euro. Die Bundesregierung hat Vereinfachungsmaßnahmen auf den Weg gebracht, die inzwischen ein Entlastungsvolumen von über 10 Milliarden Euro umfassen. Es ging beispielsweise um Vereinfachungen beim Vergaberecht sowie
bei Buchführungs und Bilanzierungspflichten und um die Abschaffung der Lohnsteuerkarte in Papierform.
Caritas in NRW: Auch in der sozialen Arbeit wächst das Maß an Kontrolle und Bürokratie. Doch soziale Arbeit richtet sich an Menschen, sie schafft kein Produkt, sondern ist eine Dienstleistung am Menschen. Braucht es nicht mehr Menschlichkeit statt mehr Kontrolle und Bürokratie?
Wolf-Michael Catenhusen: Menschlichkeit und Kontrolle bzw. Bürokratie müssen nicht unbedingt Widersprüche sein. Ein angemessenes Maß an Bürokratie und auch Kontrolle ist wesentlicher Bestandteil einer rechtsstaatlichen Gemeinschaft. Im Gesundheits- wie im Sozialwesen ist es allerdings in großem Umfang zur Einführung von Dokumentationspflichten als Voraussetzung für Kostenübernahmen gekommen. Hier ist es sinnvoll und überfällig, diese Belastungen konkret, objektivierbar zu ermitteln und nach bürokratieärmeren Lösungen zu suchen. Zur Prüfung gehört aber auch die Frage, in welchem Ausmaß soziale Einrichtungen ein professionelles Kostenmanagement praktizieren. Es müssen Verfahren gefunden werden, die die Zuwendung zu den Menschen im Mittelpunkt halten.
Wolf-Michael Catenhusen, stellv. Vorsitzender des Nationalen NormenkontrollratsDeutscher Ethikrat
Caritas in NRW: In Alten- und Pflegeheimen sind für alle Pflege und Dienstleistungen, für alle Handgriffe, schriftliche Dokumentationen vorgeschrieben. Diese verschlingen enorm viel Geld und Arbeitszeit, die für die Pflege fehlen.
Wolf-Michael Catenhusen: Ja, hier besteht Handlungsbedarf. Es ist gut, dass im Rahmen der geplanten Pflegereform gerade auch der Bürokratieaufwand unter die Lupe genommen werden soll.
Im Frühjahr startete die Bundesregierung zudem das Projekt zur Ermittlung des bürokratischen Aufwands, der durch Antragsverfahren auf gesetzliche Leistungen für Pflegebedürftige und chronisch Kranke entsteht. Hier sitzen neben dem Normenkontrollrat zahlreiche Vertreter aus dem Gesundheits- und Pflegebereich mit am Tisch. Derzeit erhebt das Statistische Bundesamt die Kosten, die insbesondere durch die verschiedenen Antrags- und Dokumentationspfl ichten verursacht werden. Hierzu befragt es pflegebedürftige Personen, deren Angehörige, aber auch Pflegeeinrichtungen. Ich denke, da werden wir noch im Herbst wichtige Erkenntnisse erhalten. Gleichzeitig sammeln wir im Projekt konkrete Vereinfachungsvorschläge, die dann hoffentlich zahlreich auch Eingang in die Pflegereform finden.
Caritas in NRW: Was raten Sie Trägern und Einrichtungen, wenn diese gegen "St. Bürokratius" vorgehen wollen? Kann der Einzelne etwas tun?
Wolf-Michael Catenhusen: Ja, jeder Einzelne kann etwas tun, etwa durch transparente Kostenermittlungen. Wir alle, Bundesregierung und Normenkontrollrat, sind darauf angewiesen, dass wir auf überbordende Bürokratie hingewiesen werden. Ganz wichtig dabei sind aber auch konkrete Vorschläge zur Vereinfachung. Da liegen die Tücken oft im Detail. Denn häufig geht es um einfachere Regeln, nicht um ihre Abschaffung.
Wenn es um konkrete Hinweise und Vereinfachungsvorschläge im Pflegebereich geht, dann ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt dazu.
Der Nationale Normenkontrollrat hat die Aufgabe, die Bundesregierung bei der Umsetzung ihrer Maßnahmen auf den gebieten des Bürokratieabbaus und der besseren Rechtsetzung zu unterstützen
(§ 1 Abs. 2 NKR-gesetz).
Hieraus ergeben sich zwei Aufgabenschwerpunkte:
- Vermeidung neuer bürokratischer Belastungen und
- Reduzierung bestehender bürokratischer Belastungen.