Ungarn: Know-how-Transfer
Christoph Grätz, heute Referent in der Stabsstelle Kommunikation, hat seit Anfang der 90er bis 2010 für die Auslandshilfe der Caritas im Ruhrbistum gearbeitet. Im April 2014 besuchte er die Caritas Vac in Ungarn, einer kleinen Stadt nördlich von Budapest. Im Interview berichtet er von seinen Begegnungen und Erlebnissen.
Caritas in NRW: Welches Bild konnten Sie sich in Ungarn von der Arbeit der Caritas machen?
Christoph Grätz: Ich habe eine Caritas mit enormem Potenzial kennengelernt und viele hoch motivierte Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, was zu kommunistischer Zeit praktisch unmöglich war. Immerhin hat es die ungarische Caritas geschafft, seit 1989 ca. 7000 Menschen zu aktivieren, die sich in den Pfarreien sehr kreativ und findig um arme Menschen kümmern. Annamaria Rendessy, die Vorsitzende der Caritasgruppe Nagymaros, eines Ortes mit knapp 5000 Einwohnern, bringt es so auf den Punkt: "Wir sind ein Umschlagplatz für alles: Säuglingssachen, Kleidung, Saatgut, Herde, Kühlschränke und Möbel. Bei uns machen Ärztinnen genauso mit wie Verkäuferinnen."
Die Direktorin der Caritas Vac, Dr. Judit Gyurcsan, berichtet ebenfalls, dass die Caritas in Ungarn vom Ehrenamt lebt. Der Versorgungsaspekt steht ganz klar im Vordergrund. Die Caritas betreibt in der Stadt Vac einen Secondhandladen und eine Kleiderkammer. Sie empfängt mehrmals im Jahr Hilfslieferungen aus Deutschland. Außerdem unterstützt sie eine Wohngruppe für ehemalige Strafgefangene. Über die Caritas haben die drei Bewohner eine Maschine für die Herstellung von Altpapierbriketts bekommen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Ideen wie Befähigung, Hilfe zur Selbsthilfe und die Anwaltschaft der Caritas - von der wir in Deutschland glauben, sie als Caritas auszufüllen - sind bei der ungarischen Caritas noch unterrepräsentiert. Mich hat beeindruckt, mit welch geringem Personalaufwand und geringen finanziellen Mitteln die Caritasgruppen in Ungarn ein Hilfesystem für arme Menschen und Benachteiligte aufgebaut haben. Von der Kreativität unserer Caritas-Kolleg(inn)en in Ungarn können wir viel lernen.
Caritas in NRW: Viele westliche Medien beobachten die ungarische Regierung mit großer Skepsis. Das Wahlergebnis von April 2014 zeigt aber, dass die Ungarn hinter ihrem Ministerpräsidenten Viktor Orban stehen, einem Ordnungspolitiker und Europagegner?
Christoph Grätz: Orban ist als strahlender Sieger aus der Parlamentswahl 2014 hervorgegangen. Ich habe kurz nach dieser Wahl kaum Menschen getroffen, die Orban gegenüber kritisch eingestellt waren. Die meisten, auch Caritas-Leute, mit denen ich gesprochen habe, sehen in ihm den Mann, der Politik für die Ungarn, Politik für die "kleinen Leute" macht. Mein Eindruck ist, dass er es gut versteht, mit Symbolpolitik ein Bild des Landes zu beschwören, das eigentlich auf vergangener Größe beruht. Ungarn ist nach dem Ersten Weltkrieg auf ein Drittel seiner einstigen Größe beschnitten worden. Viele Ungarn beurteilen aus diesem Bewusstsein heraus Politik. Diese Gefühlslage und das Versagen der sozialdemokratischen Vorgängerregierung haben es Orban leichter gemacht, einen derart krassen Wahlsieg einzufahren. Das gute Abschneiden der rechtsradikalen Jobbik-Partei mit immerhin 23 von 199 Sitzen wurde von meinen Gesprächspartnern eher verharmlost und als Randerscheinung dargestellt.
Caritas in NRW: Ungarn gilt als Land mit restriktivem Umgang mit Benachteiligten und Minderheiten. Auf die offiziell gezählten etwa 200000 Roma trifft beides zu. Wie haben Sie das erlebt?
Christoph Grätz: Es gibt - wie auch bei uns - kaum objektive, ideologiefreie Berichterstattung über diese Volksgruppe, deren Zahl in Ungarn nach inoffiziellen Schätzungen zwischen einer halben und einer Million liegt. Immerhin konnte ich einige Einschätzungen von Caritaspartnern bekommen.
Während meines Aufenthaltes habe ich mit Caritasvertretern ein Romaviertel in einem kleinen Dorf, Kallo, 30 km östlich von Vac, besucht. Der Ort hat 1580 Einwohner, davon etwa 800 Roma mit etwa 400 Kindern und Jugendlichen. Die Menschen leben hier in Häusern, deren Bewohner bereits vor Jahren fortgezogen sind. Die Häuser sind zum Teil sehr heruntergekommen. Das Straßenbild ist geprägt von vielen Jugendlichen, auch jungen Müttern mit Kleinkindern auf dem Arm und vielen Kindern, die auf der Straße spielen. Hier habe ich Gyula Bango (23) und David Picacs (22) getroffen. Gyula lebt gemeinsam mit seinen Eltern und drei Geschwistern in einem ehemaligen Bauernhaus. Er und sein Freund waren Teilnehmer eines staatlichen Programms, das den weiteren Bezug von Arbeitslosengeld verlängert, wenn die Menschen "gemeinnützige Arbeit" leisten. Abgesehen davon sind beide arbeitslos und ohne Ausbildung. Sie haben lediglich die 8. Klasse abgeschlossen, wie etwa 15 bis 20 Prozent der Roma-Bevölkerung. Das größte Problem vieler Ungarn ist die Arbeitslosigkeit. Für Ungelernte ist es besonders schwer, einen Job zu finden; obwohl sich in der Region einige mittelständische und größere, auch ausländische Unternehmen angesiedelt haben, gehören Gyula und David als Minderqualifizierte zu den Verlierern.
Viele Ungarn haben nach der Wende ihre Arbeit verloren: geschlossene Zementfabrik an der Donau.Christoph Grätz
Caritas in NRW: Wie denkt die Caritas, und was tut sie für die Roma?
Christoph Grätz: Vadasz Balint von der ungarischen nationalen Caritas hat mir dazu gesagt: "Wir müssen uns der Situation stellen, dass ca. zehn Prozent unserer Bevölkerung Menschen sind, die meist minderqualifiziert sind und deshalb in Armut leben. Es geht darum, für diese Menschen langfristige Lösungen zu entwickeln und dabei die Balance zwischen positiver und negativer Diskriminierung zu wahren." Bei einer "Bevorzugung" dieser Volksgruppe rege sich Widerstand von der ansässigen Bevölkerung, bei einer negativen Diskriminierung komme Kritik aus Brüssel. Das mache es nicht leichter, angemessen zu helfen. Aber mein Budapester Caritas-Kollege sagt auch, dass es in vielen Romafamilien an positiven Vorbildern mangele, an Erwachsenen, die einer geregelten Arbeit nachgingen. Er schlägt kleinräumige Projekte vor, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Ein Problem liege auch in der Roma-Community selbst begründet, die jeden, der versuche, etwas anders zu machen als die anderen, als "Verräter an der Kultur der Roma" ächte. Zsuzsana Petöcs, die an der katholischen Fachhochschule für Sozialberufe in Vac unterrichtet, schlägt eine Erziehungsoffensive vor, Grundschullehrer und Erzieher müssten besser qualifiziert und auf die Arbeit mit Roma vorbereitet werden. Sie wünscht sich eine Verstärkung des Bildungssystems. Es solle mittels passender Methoden und qualifizierter Lehrer/-innen und Erzieher/-innen verstärkt auf den Spracherwerb der Romakinder abzielen. Petöcs hat an der Fachhochschule das Curriculum für das Fach Romologie entwickelt, das Erzieher/-innen auf die Arbeit mit Romakindern vorbereitet. Bei meinem Besuch habe ich erlebt, dass es sowohl gut integrierte als auch benachteiligte Roma gibt.