Salz der Erde
Vielleicht hat sich Manfred Lütz (deutscher Arzt, katholischer Theologe und Schriftsteller, Leiter des Alexianer-Krankenhauses in Köln - so der Wikipedia-Eintrag) den Spruch des römischen Dichters Horaz "Carpe diem" im Sinne von "Nutze die Gunst der Stunde" zu Herzen genommen, um im Diskurs über gesellschaftliche, kirchliche und die Caritas betreffende Fragen wieder kräftig mitzumischen und dem Feuilleton Nahrung zu geben. Mit professionellem Medienwirbel begleitet der Bestsellerautor und gefragte Talkshow-Gast das Erscheinen seiner neuen Streitschrift "Benedikts Vermächtnis und Franziskus’ Auftrag. Entweltlichung" (2013).
Der erste Teil des Buches stammt von Kurienkardinal Paul Josef Cordes, sein zweiter Teil von Manfred Lütz selbst. Schon mit dem Titel vereinnahmt es den neuen Papst Franziskus für das angeblich "brisante Programm, das Benedikt XVI. seiner deutschen Heimat ins Stammbuch geschrieben hat": Entweltlichung (Verlagswerbung).
In dem von ihm zu verantwortenden Part greift der Psychiater Lütz Inhalte seiner Schrift "Der blockierte Riese" (1999) wieder auf, in der er eine Art "Psycho-Analyse" der katholischen Kirche vorlegte. Darin hatte er ebenfalls - sprachlich brillant - den interessanten, letztlich aber zu kurz greifenden Versuch unternommen, mit theologischen und psychologischen Theorieansätzen dem gesellschaftlichen Komplex Kirche und Caritas kritisch beizukommen.*
Plakative Schwarz-Weiß-Malerei
Bereits 1999 gelang es Lütz, an vielen Stellen wunde Punkte des kirchlichen und religiösen Lebens aufs Korn zu nehmen. Heute äußert er sich jedoch mit seinen Thesen zur Caritas in einem Umfeld, das inzwischen noch stärker in Bewegung geraten ist. Zudem erzeugen seine zum Teil schillernden und widersprüchlichen Interview-Aussagen in zu Aufgeregtheit neigenden Medien leichter eine Resonanz, die zu Fehlinterpretationen führen könnte. Das hat auch etwas damit zu tun, dass die Medien, die Lütz virtuos anzusprechen versteht, gerade kirchliche Fragen immer plakativer und distanzierter behandeln. Kirchenkritik ist quasi "in", da kommt der Kronzeuge gerade recht.
Lütz blendet nämlich in seinem Ansatz viele der augenblicklichen Systemfragen aus, obgleich er eine systemische Sichtweise für sich in Anspruch nimmt. Dazu gehören die auflebende und an Schärfe zunehmende Debatte um das kirchliche Arbeitsrecht und die Klage der Gewerkschaft Verdi vor dem Bundesverfassungsgericht. Dazu gehören die finanziellen Schwierigkeiten kleinerer Krankenhäuser, der Abbau der Refinanzierung von sozialen Dienstleistungen und anderes mehr. Immer wieder zeigt sich, dass es eben nicht möglich ist, "das ganze System auf die Couch zu legen", wie er es mit seinem Buch von 1999 vorschlug. Man kann Entwicklung, Lage und Zukunft der kirchlichen Wohlfahrtsarbeit nur in einer mehrdimensionalen Perspektive analysieren. Dazu gehört eine differenzierte Betrachtung der einzelnen "Branchen" und Handlungsfelder "der Caritas" ebenso wie gesellschafts- und sozialpolitische Einordnungen. Lütz unterstützt die plakativen Schwarz-Weiß-Malereien der Medien, weist aber nicht den Weg zu Problemlösungen.
Lütz geht von der Feststellung aus: "Die kirchlichen Institutionen sind viel zu groß geworden" (Die Welt vom 5. Juni 2013), und diese müssten deshalb in Relation zur Zahl der Gottesdienstbesucher (sic!) eingeschmolzen werden. Wenn man dies streng durchrechnen wollte, dann käme man letztlich zu der Konsequenz, den Kölner Dom in ein Museum umzuwandeln und die wichtigsten Gegenstände ins Priesterseminar zu verlegen, wo man allerdings auch schon bei "maßstäblichen" Personalressourcen angekommen ist. Folgt man den rechnerischen Spielen von Manfred Lütz, so müsste man sich allein im Gebiet des Erzbistums Köln von den meisten katholischen Kliniken trennen, weil unter absolut gesetzten Regeln der kirchlichen Grundordnung viele Mitarbeiter(innen) nicht mehr konfliktlos ins kirchliche Arbeitsrecht passen. Und würde man katholische Kindertageseinrichtungen unter planerischen Aspekten der Erreichbarkeit und der betriebswirtschaftlichen Auslastung nur noch nach der Zahl der katholischen Kinder anbieten, so müsste man weitestgehend auf flächige Angebotsstrukturen verzichten. Denn wer bringt noch seine Kinder zu einer der dann übrig gebliebenen zentralörtlichen Einrichtungen, wenn es dazu einer langen Anreise aus dem letzten Winkel einer Großpfarrei bedarf? Oder möchte Lütz eingruppige Einrichtungen für die verbliebenen kleinen Stützpunkte in den sich weit ausdehnenden Gemeindeverbünden?
Eine große Regionalzeitung stellte Lütz die von ihm quasi schon vorformulierte Frage: "Verdunkeln professionelle Dienstleister die christliche Botschaft, indem caritatives Handeln dem Caritasverband überantwortet wird?" Worauf dieser zunächst beklagte, dass die Kirchengemeinden den Wesensvollzug "Caritas" an die Professionellen abgegeben hätten. Da ist gewiss etwas dran, aber die Schwierigkeiten freiwilligen Engagements betreffen nicht nur die diakonischen Systeme der Kirchen. Sie stellen ein generelles Phänomen einer sozialstaatlich-modernen Gesellschaft dar, einer Gesellschaft, in der die meisten Menschen flexibel, mobil und zunehmend nicht mehr auskömmlich arbeiten müssen. Dann folgt bei Lütz die Attacke: "Für das Bekenntnis haben wir die bezahlten Theologen und für die Caritas den Caritasverband. Doch das wäre eine amputierte Kirchlichkeit. Der Caritasverband mit seinen Profis macht ja gar keine Caritas. Caritas heißt Liebe, und bezahlte Liebe ist keine christliche Kategorie. Der Caritasverband heißt mit Recht Caritasverband, wenn er der Liebe dient, die wir Christen selber in den Gemeinden und anderswo tun müssen" (Rheinische Post vom 4. Juni 2013). In seinem mit Cordes publizierten Buch formuliert Lütz noch spitzer - und besser könnte es kein Kabarettist: "... recht besehen müsste der Hamburger Caritasverband darauf bestehen, dass er keine Caritas macht, denn seine Mitarbeiter bekommen für ihre qualifizierte Tätigkeit mit Recht Geld. Wer aber wollte von sich gerne behaupten, er würde gegen Geld Caritas machen? Caritas heißt Liebe, und bezahlte Liebe gibt es in Hamburg vor allem auf Sankt Pauli" (S. 139). Man will sich diese steile Aussage nicht weiter ausmalen.
Wer darf zu den Kindern Gottes gehören?
Das ist - mehr noch als seine Äußerungen zum durchaus ja streitig diskutierbaren kirchlichen Arbeitsrecht für alle caritativen Sozialunternehmen - wirklich starker Tobak und zudem geradezu "sophistisch" mehrdeutig. Mit solchen Bemerkungen verletzt er all diejenigen, die in unterschiedlicher Nähe und Distanz zu christlichen Grundorientierungen und zur Kirchenbindung täglich ihren professionellen, aber durchaus von ethischen Haltungen getragenen Dienst ausüben. Im raschen Wechsel seiner Rollen als Arzt, Klinikchef, Publizist, Theologe, Kirchenkritiker und Berater am Heiligen Stuhl müsste Lütz mehr Differenzierungsvermögen an den Tag legen können. Warum können und sollen wir es nicht aushalten, in einer zunehmend säkularen Gesellschaft mit Widersprüchen umzugehen? Muss man "echte und unechte" katholische Krankenhäuser unterscheiden, wo es doch schon (Gott sei Dank!) unmöglich ist, festzulegen, wer zu den Kindern Gottes gehört? Was sagt Lütz zu denen, die in den von ihm zur Abschreibung freigegebenen Einrichtungen ethisch-religiöse Diskurse anregen, Gottesdienste gestalten und ihr Handeln durch religiöse Praktiken grundlegen wollen? Notabene kann man mit derartigen Attacken auch diejenigen vor den Kopf stoßen, die mit andersgläubigen Motivationen, aber durchaus gerne in einem gemeinnützigen katholischen Krankenhaus arbeiten.
Bei einem Chef einer katholischen Klinik, der von seiner eigenen gut dotierten kirchlichen Position aus urteilt, müssen strengere Kriterien verantwortlichen Diskurses angelegt werden als bei Externen.**
An gesellschaftlichen Alternativen arbeiten
Man darf es nicht durchgehen lassen, dass durchaus tiefgreifende Folgen so verwegener Argumente einfach ausgeblendet werden. Große Bereiche der sozialen Sicherungssysteme befinden sich im Umbruch. Als Aktiengesellschaften geführte Klinikketten warten nur darauf, noch mehr gemeinnützige Krankenhäuser übernehmen zu können. Sollen die Kirchen, sollen Caritas und Diakonie aus den Sozialunternehmen aussteigen und nur noch einer "armutsorientierten Diakonie" (Fleßa 2002) folgen? Was sagt ein Mediziner zum Pflegenotstand, der nur mit wohlfahrtspflegerischer Organisationskraft und sozialpolitischer Lobbyarbeit bewältigt werden kann, in einer hochkomplexen Gesellschaft aber nicht allein mit einer Art "Graswurzel-Caritas"? Gewiss, auch Letztere benötigen wir wieder dringend. Aber auch manche aus zivilgesellschaftlichem Potenzial entstandenen Initiativen, wie beispielsweise die Tafeln zur Versorgung armer Menschen, darf man unter sozialpolitischen Aspekten nicht unkritisch betrachten.
"Quidquid agis prudenter agas et respice finem." Das heißt: "Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke die Folgen." Hätten wir keine Sozialunternehmen in der Caritas mehr, was die wirtschaftsnahen Kreise seit Jahren ebenfalls fordern, würde die verbandliche Caritas viele Ressourcen verlieren, die sie letztlich auch für ihre sozialpolitische Arbeit benötigt. In einer Organisationsgesellschaft setzt sich eben nicht nur die wohlgemeinte Fürbitte im Gottesdienst durch.
Die Caritas, wenn man überhaupt so pauschal von dieser sprechen darf, steht durchaus unter Stress: Manche dicken Bretter werden in den kommenden Jahren immer schwerer zu bohren sein. Der soziale und kulturelle Wandel wird den Einfluss kirchlicher Organisationen dabei ohnehin zurückdrängen, da muss Lütz nur ein wenig abwarten. Sollen wir aber bewusst noch Öl in die aufkochenden Strukturprobleme gießen? Oder soll nicht jeder in "seiner Caritas-Branche" das Beste für die Menschen herauszuholen versuchen und geduldig Veränderungsprozesse begleiten?
"Entweltlichung" kann doch nicht heißen, sich aus der Welt herauszuhalten! In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Juni 2013 heiß es unter dem Titel "Vatikanbank, Irish Bank und noch mehr Halunken", man solle angesichts der stark vermuteten kriminellen Machenschaften die Vatikanbank abschaffen. Wenige Zeilen später formulierte der Kommentator - vermutlich jetzt ironisch gemeint -, die Unicredit oder die Deutsche Bank würden gewiss danach eine Filiale hinter den Vatikanischen Gärten eröffnen. Die Kirche kann nicht aus der Welt aussteigen, aber sie kann hoffentlich immer noch an gesellschaftlichen Alternativen arbeiten. In Deutschland gibt es eine Reihe genossenschaftlich organisierter kirchlicher Banken. Sie sind nicht "systemrelevant", aber vielleicht gerade deshalb nicht in den Strudel der Finanzkrise geraten.
Aktives Hineinwirken
Wollen und können wir als Christen in die Sozial- und Gesellschaftspolitik aktiv hineinwirken? Oder wollen wir eine "orthodoxe" Kirche, die zu den aktuellen Nöten einer Gesellschaft kaum etwas zu sagen in der Lage ist? Wollen und können wir sozialwirtschaftlich-gemeinnützige Modelle weiterentwickeln? Wollen und können wir noch weitgehend unausgeschöpfte Möglichkeiten der wirklichen Mitarbeiterbeteiligung realisieren? Diese und andere Fragen lassen sich nicht mit feuilletonistischer Leichtigkeit beantworten.
Da halten wir es doch lieber mit Kurienbischof Josef Clemens: "Auch die Kirche in Deutschland muss sich, bevor sie sich von einem Kindergarten oder einer Schule trennt, fragen, ob sie die Einrichtungen mit ihren Mitarbeitern ausreichend nutzt, um ein christliches Engagement zu forcieren" (Rheinische Post vom 24.Juni 2013). Und, so möchte man hinzufügen, auch die Kirche selbst muss sich fragen lassen, ob sie dazu die ausreichend modernisierten Orientierungen und unterstützenden Hilfen anbietet.
* Den Thesen im Buch "Der blockierte Riese" ist seinerzeit unter anderem in dieser Zeitschrift
(Heft 3/1999) von Thomas Möltgen bereits in einigen entscheidenden Punkten heftig widersprochen
worden.
** Der Verfasser dieses Artikels hat sich unter dem Aspekt fehlender "facts and figures" in Caritas
in NRW, Heft 2/2013 mit der Veröffentlichung von Eva Müller (Gott hat hohe Nebenkosten, 2012)
befasst. Den Link zu dem entsprechenden Artikel finden Sie unten.