"Liebe und dann tu, was du willst"
Ulrich Lüke ist deutscher Theologe und Biologe, Priester und Seelsorger. Er war von 2001 bis 2017 Professor für Systematische Theologie an der RWTH Aachen.Foto: Markus Lahrmann
Vorbemerkung: Es ist gar nicht so einfach, über Sexualität zu sprechen, da das Thema tief in persönliche, kulturelle und soziale Dynamiken eingebettet ist. Trotz aller Sexualaufklärung in der Schule, trotz der Präsenz vieler Aspekte des Themas in den Medien gilt Sexualität als Tabuthema, weil es mit Scham und Unsicherheit behaftet ist. Menschen fürchten, verurteilt zu werden, wenn sie ihre Wünsche oder Fragen äußern. Manche fühlen sich unwohl, weil es an Aufklärung oder den richtigen Worten fehlt. Kulturelle, familiäre und auch noch religiöse Normen können Gespräche zusätzlich belasten.
Auch die Angst vor Missverständnissen oder Ablehnung kann eine Rolle spielen, besonders wenn es um sexuelle Identitäten, Bedürfnisse oder Probleme geht. Geschlechterrollen und stereotype Erwartungen erschweren offene Gespräche, da viele befürchten, diesen nicht zu entsprechen. Für Menschen mit negativen oder traumatischen Erfahrungen kann das Thema zudem besonders sensibel sein.
Hinzu kommt, dass Sexualität für viele ein sehr privater Bereich ist, den sie ungern öffentlich machen. Manchmal fehlt es auch an einer neutralen und wertfreien Sprache, um sich auszudrücken, ohne sich selbst unwohl zu fühlen oder ohne dass andere unangenehm berührt sein könnten. Offene Gespräche über Sexualität erfordern daher Vertrauen, Zeit und einen sicheren Raum, in dem Menschen sich verstanden und nicht bewertet fühlen.
Caritas in NRW Die Ordnung menschlicher Sexualität war lange ein Markenkern katholischer Morallehre. Sexualethische Normen wie das Verbot von außer- und vorehelichen sexuellen Interaktionen, die Verurteilung der Empfängnisverhütung und die Ablehnung homosexueller Aktivitäten galten als unhinterfragbar. Wie stellt sich nach katholischer Lehre ein verantwortungsvoller Umgang mit Sexualität dar?
Ulrich Lüke: Zunächst einmal muss kirchliche Sexualmoral unter gründlicher Kenntnisnahme dessen formuliert werden, was dem derzeitigen biomedizinischen Kenntnisstand über Sexualität entspricht. Seit man durch die Entdeckung des Säugetier-Eis (1842) um den mindestens gleichwertigen Beitrag des weiblichen Geschlechts bei der Zeugung weiß, kann man nicht mehr so tun, als sei im Sperma des Mannes der ganze Mensch angelegt und die Frau sei nur der Acker, in den der Mann sät. Das ist die Vorstellung, die noch in Genesis 38,8 ff., in der Geschichte von Onan, vorherrscht. Auf der Kenntnisebene ist dann Onanie die Tötung von Menschenkindern. Auch wenn diese falsche Sicht der Dinge in der Hl. Schrift steht, ist sie nicht heilig, sondern kritikbedürftig.
Aber dann ist auch die Frage zu stellen, wer und was im Bereich der Sexualität des Schutzes bedarf und wie er zu gewährleisten ist. Es gibt im Bereich der Sexualität neben der obsolet gewordenen reglementierenden Übergriffigkeit der Kirchen früherer Jahrzehnte heute längst eine libertinistisch-pornokratische Übergriffigkeit in den sogenannten sozialen Medien heutiger Zeit. Beide Formen der Übergriffigkeit widersprechen einer frei und menschlich auszugestaltenden Sexualität.
Caritas in NRW: Worauf gründet sich ein katholisches Verständnis von Sexualität?
Ulrich Lüke: Auf den biomedizinischen Kenntnisstand und auf das Gebot der Nächstenliebe, das die Würde des Menschen nicht zu einer von anderen Menschen zu- oder aberkennbaren Größe umdefiniert. Der Mensch ist ein "Säugetier von Gottes Gnaden" und hat von ihm her seine Würde. Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe weist auf diese doppelseitige Bindung hin.
In seinen Forschungsarbeiten setzt sich Ulrich Lüke (geboren am 09.09.1951 in Münster, Westfalen) insbesondere mit dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Glaube auseinander. Seit seiner Emeritierung 2017 ist Lüke Krankenhausseelsorger am St. Franziskus-Hospital in Münster.Foto: Markus Lahrmann
Caritas in NRW: Die heutigen gesellschaftlichen Normen zur Sexualität lassen sich als "Verhandlungsmoral" beschreiben. Statt geschlechterrollenbasierter Regeln oder familiärer Bindungen bestimmen partnerschaftlich ausgehandelte individuelle Wünsche - emotional und sexuell - das Leitbild. Der moralische Imperativ besteht darin, Sexualität als Ausdruck der eigenen Identität zu gestalten, die stets auf Konsens und Befriedigung aller Beteiligten beruht. Lust, gegenseitige Befriedigung und Selbstbestimmung sind zu zentralen Prinzipien sexuellen Handelns geworden. In welchem Spannungsverhältnis steht solch eine Auffassung zur katholischen Lehre?
Ulrich Lüke: Auch bei der Annahme einer "Verhandlungsmoral" ist kritisch nachzufragen, wer hier mit wem verhandelt und mit welcher Absicht. Vor nicht allzu langer Zeit haben Parteien, die heute davon nichts mehr wissen wollen, in Gesetzesvorhaben die Entkriminalisierung von Sex mit Kindern postuliert, ja sogar die Ermöglichung von gewaltfreiem Sex mit Kindern in ihr Parteiprogramm geschrieben. Und unter Erwachsenen gilt, dass auch ein ahnungsloses Gretchen und ein in Sachen Sex durchaus erfahrener Dr. Faust keine gleichwertigen Verhandlungspartner wären. Der Begriff "Verhandlungsmoral" hat eine meines Erachtens allzu merkantile Schlagseite. Da wird auch bei Wahrung juristischer Vorgaben manch einer über den Tisch gezogen.
Warum kann man Sexualität nicht primär als durchaus variabel zu gestaltendes Ausdrucksmittel für Liebe unter gleichberechtigten Partnern verstehen?
Caritas in NRW: Auch alte Menschen haben sexuelle Bedürfnisse. Wenn sie in Einrichtungen leben, pflegebedürftig, möglicherweise demenziell eingeschränkt sind, sind Pflegekräfte besonders herausgefordert, damit umzugehen. Wie lässt sich in dieser besonderen Situation eine Balance zwischen professioneller Distanz und Respekt vor Intimität finden?
Ulrich Lüke: Die Pflegekräfte sind auch in Einrichtungen in katholischer Trägerschaft nicht die Erzieher der Bewohner ihrer Einrichtungen, schon gar nicht bei demenziell eingeschränkten Personen. Sie haben nicht den Moralapostel zu spielen, aber bei einer vorliegenden Übergriffigkeit die Person, die sich nicht wehren kann oder deren Freiheit und Selbstbestimmung beeinträchtigt ist, zu schützen. Der Schutz vor Übergriffen steht an erster Stelle und muss, wenn andere Möglichkeiten ausgeschöpft sind, auch die Kündigung des Bewohnervertrags einschließen.
Caritas in NRW: Woran können sich Mitarbeitende konfessioneller Einrichtungen der Altenhilfe im Umgang mit dem Thema "Sexualität im Alter" orientieren, um sowohl den Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten als auch der Trägeridentität mit ihren Werthaltungen und ihrem Menschenbild gerecht zu werden? Ähnliche Fragen stellen sich bei Einrichtungen der Behindertenhilfe. Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Welche Aufgaben stellen sich den Einrichtungen und ihren Mitarbeitenden?
Ulrich Lüke: Es sollte in solchen konfessionellen Einrichtungen ein "Forum internum" und ein "Forum externum" geben. Die Direktion eines solchen Hauses ist für das "Forum externum", den äußeren Rahmen, zuständig, dafür, dass in dieser Einrichtung Menschen so leben können, dass es einem partnerschaftlichen, respektvollen, menschlichen, religiös selbstbestimmten Leben entspricht. Aber es sollte auch das geben, was in klassischen kirchlichen Einrichtungen das "Forum internum" war, der Bereich, in dem der einzelne Bewohner absolut diskret Ermutigung, Unterstützung, Korrektur durch einen männlichen oder weiblichen Therapeuten oder Spiritual findet, der dem "Forum externum" gegenüber nicht weisungsgebunden ist. Das hat nichts mit Doppelmoral zu tun, aber wohl damit, dass der Geist der Einrichtung nicht zum Ausverkauf gestellt und die individuelle Freiheit dennoch gewahrt wird.
Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, stoßen aber oft auf Barrieren – sowohl physisch als auch gesellschaftlich. Sexualassistenz oder -beratung kann helfen, die Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten zu adressieren und ihre Selbstbestimmung zu fördern.Foto: AnnaStills | stock.adobe.com
Caritas in NRW: Der Schutz vor sexueller Gewalt und Missbrauch gerade bei vulnerablen Gruppen ist ein zentraler Punkt, bei dem die katholische Kirche inzwischen sehr sensibilisiert ist, weil es in
der Vergangenheit so ein unfassbares Versagen gab. Was wird getan, um diesen Schutz zu gewährleisten?
Ulrich Lüke: Die katholische Kirche in Deutschland hat anders und bisher besser als alle anderen großen gesellschaftlichen Gruppen (Parteien, Schulen, Hochschulen, Sportvereine etc.) ein bemerkenswertes Schutzkonzept für ihre Einrichtungen vorgelegt und umgesetzt, durch das eine grundlegende Gefährdungseinschränkung gegeben ist. Die erhebliche moralische Fallhöhe, der Schock und die Scham über das eigene Versagen waren hier der Motor zur Veränderung, und sie sollten es bleiben.
Caritas in NRW: Unsere Gesellschaft ist viel diverser als noch in früherer Zeit. Wie reagiert Kirche darauf, was muss noch geschehen?
Ulrich Lüke: Ich glaube, Kirche sollte zur Kenntnis nehmen und respektieren, was im Bereich der Sexualität der Fall ist, z. B. homosexuelle, heterosexuelle, bisexuelle Neigungen. Aber dann ist nicht jede Form sexueller Neigung und Praxis, nur weil es sie gibt, auch schon als gut zu klassifizieren oder zu tolerieren. Das wird an den pädophilen Praktiken und ihren Opfern auf dramatische Weise evident. Das wäre überdies ein naturalistischer Fehlschluss. Der heilige Augustinus (354-430) war ein Mann mit einem reichlichen und wenig an ehelicher Treue orientierten oder gar auf Heiligkeit hindeutenden Vorleben. Aber von ihm, der dann doch zu einer existenziellen Lebenswende fähig war, stammt eine Faustformel für die Urteilsfindung auch im Bereich der Sexualität: "Ama, et fac, quod vis! Liebe und dann tu, was du willst." Wer den anderen Menschen liebt, wirklich liebt, der weiß, was sein darf oder kann und was nicht. Und das steht nicht im Knigge.
Fragen von Markus Lahrmann.