Keine Restflächen
Der Duisburger Holger Ellerbrock ist Diplom-Geograf. Er arbeitete für das Düsseldorfer Regierungspräsidium, bei der Bezirksplanungsbehörde sowie der Oberen Wasserbehörde. Von 1994 bis 2000 war er Ministerialrat und Referatsleiter des Referates „Lagerstättensicherung, Wasser, Abfall, Verkehrsstruktur, Verkehr und Umwelt“ in der Abt. VI „Landesplanungsbehörde“. Seit 2000 ist er Landtagsabgeordneter der FDP
Caritas in NRW: Nordrhein-Westfalen ist das Land der Großstädte. Wird der ländliche Raum von der Politik vernachlässigt?
Holger Ellerbrock: Tatsächlich lässt sich an zahlreichen Stellen der NRW-Landespolitik eine Tendenz zur Vernachlässigung peripher gelegener Kommunen erkennen. Beispielhaft hierfür ist der Gemeindefinanzausgleich, in dessen Rahmen die Landeszuweisungen je Einwohner mit der örtlichen Bevölkerungszahl ansteigen. Die Einwohnerzahl wird jedoch nach Größenklassen der Gemeinden gewichtet; Großstädte haben einen höheren Multiplikator als kleine Gemeinden. Das führt dazu, dass Einwohner kleiner Gemeinden "weniger wert" sind als Einwohner großer Städte. Bei den Förderprogrammen des Landes gibt es zwar auch spezifische Angebote für den ländlichen Raum. Gemeinhin wird aber eher Großstadtpolitik betrieben. Auch wenn es um Infrastrukturvorhaben oder Ähnliches geht, werden die Ballungsräume häufig bevorzugt behandelt. In ländlichen Regionen wartet man z. B. hingegen mitunter jahrelang darauf, mithilfe eines Breitbandkabels an zeitgemäße Kommunikationswege angeschlossen zu werden.
Obwohl Nordrhein-Westfalen zweifellos ein Land mit vielen Großstädten ist, rechtfertigt dies nicht, ländliche Gebiete jenseits der großen Ballungszentren als "Restflächen" zu behandeln. Gerade in den weniger zentralen Regionen unseres Landes - z. B. im Sauerland, im Siegerland oder in Ostwestfalen - wird in erfolgreichen mittelständischen Unternehmen ein Großteil unserer Wertschöpfung erarbeitet. Diese mittelständische Industrie bildet das Rückgrat unserer Wirtschaft, leidet aber bereits heute unter Fachkräftemangel. Wenn es in Zukunft nicht gelingt, eine ausreichende Zahl qualifizierter Arbeitnehmer mit ihren Familien für ein Leben jenseits von Köln, Bonn oder Düsseldorf zu gewinnen, wird der Fachkräftemangel im ländlichen Raum zu einem ernsthaften Problem werden. Es muss also gelingen, in unseren Unter- und Mittelzentren die Rahmenbedingungen für ein attraktives und zeitgemäßes Leben zu schaffen bzw. zu sichern.
Deshalb ist es auch widersinnig, im in der Diskussion befindlichen Landesentwicklungsplan ein "Nullwachstum" für die Flächeninanspruchnahme zu definieren. Auch und gerade der ländliche Raum benötigt zur Attraktivitätssteigerung auch Flächen; Standortsicherung heißt, Flächenerweiterung und Produktionsumstellung vor Ort zu ermöglichen und nicht zu erschweren. Deshalb ist auch die Befristung zur Umnutzung landwirtschaftlicher Gebäude (7-Jahres-Frist) widersinnig. Statt Verlängerung der Außerkraftsetzung dieses Gesetzes wäre die von uns (= die FDP-Fraktion, die Red.) geforderte Aufhebung dieser Frist sinnvoll; wir wollen damit Umstrukturierung im ländlichen Raum erleichtern.
Caritas in NRW: In einer Gesellschaft des demografischen Wandels wird die Bedeutung von Infrastruktur und Versorgung (Arzt, Pflegedienst, Supermarkt, Schulen, Verkehr, Netzausbau ...) wichtiger. Welche konkreten Entwicklungsmaßnahmen stehen an, damit strukturschwache ländliche Räume in NRW nicht abgehängt werden?
Holger Ellerbrock: Eine wesentliche Herausforderung für ländliche Räume wird es sein, die Versorgung von Menschen sicherzustellen, die außerhalb der Ortskerne wohnen, ihren Lebensabend aber in den eigenen vier Wänden verbringen wollen. Im Zeitalter ausgedünnter Buslinien und fehlender Dorfläden geht es hier zunächst um essenzielle Dinge wie Fahrdienste, Einkaufsgemeinschaften oder die Organisation zentraler Arzttermine. Jenseits dieser Grundversorgung geht es darum, dass die Menschen nicht vereinsamen und zumindest in gewissem Umfang die Gelegenheit haben, am kulturellen Leben teilzunehmen.
Deutscher Caritasverband/Christian Schoppe
Passende Lösungskonzepte können dabei immer nur gemeindeindividuell gefunden werden. Ein wesentlicher Ansatzpunkt könnte zunächst darin liegen, die jeweiligen Ortskerne zu stabilisieren und ein Basisangebot an Gütern und Dienstleistungen zu sichern. Darüber hinaus könnte der vorausschauende Bau barrierearmer Wohnungen einen Beitrag zur Konsolidierung dörflicher Strukturen leisten. Langfristig wird der ländliche Raum aber nur überlebensfähig sein, wenn er nicht "ausstirbt", sondern auch für jüngere Generationen interessant gehalten wird. Gerade im ländlichen Raum gilt es, nicht nur von interkommunaler Zusammenarbeit zu reden, sondern sie zu praktizieren. Solche Ansätze gilt es zu unterstützen.
Caritas in NRW: Wo liegen die Stärken der Menschen im ländlichen Raum?
Holger Ellerbrock: Obwohl eine pauschale Antwort auf diese Frage nicht möglich ist, lässt sich in vielen kleinen Orten ein enormes Potenzial an Selbstorganisation und Problemlösungskompetenz beobachten. Wo in größeren Kommunen ohne formale Strukturen vielfach kein Fortkommen ist, werden gemeinsame Angelegenheiten in ländlichen Gemeinden häufig zweckgerichtet improvisiert. Im Gegensatz zu anonymen Großstädten ist das Leben im ländlichen Raum meist stärker durch persönliche Kontakte und eine hohe Bekanntheit der Einwohner untereinander geprägt. Funktionierende Vereinsstrukturen runden das Bild ab. Insgesamt kann vielen ländlichen Gemeinden daher ein hohes Maß an endogenem Entwicklungspotenzial attestiert werden.
Fragen von Markus Lahrmann, das Interview wurde schriftlich geführt.