Kämpfen für ein Stück Normalität
Leoni sitzt am weißen Esstisch im Wohnzimmer. Ein wenig Wintersonne scheint der Zehnjährigen durch die Balkontür ins Gesicht. Die Augen des Mädchens durchsuchen die rosafarbene Lillyfee-Box nach dem richtigen Filzstift. Der Schwanz der Meerjungfrau auf dem Bild vor ihr will in der passenden Farbe ausgemalt werden. Leoni entscheidet sich für braun. Während sie die Fläche ausmalt, huscht plötzlich ein Grinsen über ihr Gesicht. "Mama, wir müssen noch meine Übernachtungsparty planen!" Mutter Katharina, die daneben sitzt und bis eben ihren Kaffee getrunken hat, schlägt mit gespieltem Entsetzen die Arme über den Kopf zusammen. Sechs Freunde sollen kommen - drei Jungen und drei Mädchen. Katharina ahnt, was da auf sie zukommt. Aber das gehört halt dazu, wenn man eine zehnjährige Tochter hat. Normales Ferienprogramm, findet die Mutter.
Normal ist auch, dass Leoni dann als Einzige mit ihrem Sauerstoffgerät schlafen wird. So wie es auch normal ist, dass Leoni nicht laufen kann und gerade beim Malen auf einem speziellen Stuhl sitzt, Rücken- und Armlehnen gepolstert, der Sitz erhöht. Ihre Körpergröße entspricht eher einer Fünf- als einer Zehnjährigen, ihre Statur ist zart, wirkt geradezu zerbrechlich. Ihrem Tischnachbarn kann sie nicht in die Augen schauen, weil ihre Nackenmuskulatur nur einen engen Bewegungsradius zulässt.
Leoni hat Leukämie. Nach der erschütternden Nachricht sah es erst ganz gut aus. Eine leichte Form, des Blutkrebses, sagten die Ärzte, gut zu behandeln. Doch so war es nicht. Über ein Jahr verbrachten Mutter und die damals dreijährige Tochter im Krankenhaus. Es kam zu Komplikationen. Dann die Hoffnung: Ein geeigneter Knochenmarkspender wurde gefunden. Doch die herbeigesehnte Genesung blieb aus. Leonis Körper wehrt sich gegen das gespendete Knochenmark. "Transplantat-gegen-Wirt-Krankheit" lautet der Fachbegriff. Die Abwehrzellen des Spenders erkennen Gewebemerkmale des Empfängers als "fremd" und versuchen sie zu bekämpfen. In der Folge werden Organe wie Haut, Augen, Mundschleimhaut, Speicheldrüsen, Darm, Leber und Lunge beschädigt. Die Krankheit entwickelt sich von Mensch zu Mensch unterschiedlich, ist lebensbedrohlich, wenn wie bei Leoni mehrere Organe betroffen sind.
Die Welt der kleinen Familie stand Kopf: Leonis Vater konnte nur schwer mit der Krankheit seiner Tochter umgehen, verließ schließlich Frau und Kind. "Er hält telefonisch Kontakt und unterstützt uns finanziell so gut er kann", betont Katharina. Freunde wandten sich ab. Die 43-Jährige verlor ihren Job - aber nicht die Hoffnung: "Alles hat seinen Sinn", ist sie überzeugt.
Leoni sitzt noch immer am Tisch. Seegras malt sie neben der Meerjungfrau grün an. Sie hört Mutter Katharina zu, wie die über ihre Krankheit erzählt. Das zu hören störe sie nicht. Möchte sie selbst darüber reden? Sie schaut auf ihr Bild und schüttelt fast unmerklich den Kopf.
"Manchmal sagt sie, dass sie die Krankheit hasst. Aber sie ist sehr tough, ein erwachsenes Kind", erklärt Katharina. "Sie gibt mir viel Kraft."
Mutter und Tochter haben sich zurück ins Leben gekämpft und kämpfen jeden Tag weiter - gegen die fortschreitende Krankheit, die Hürden des Alltags und für ein Stück Normalität. Dass Leoni mittlerweile zur Schule gehe, sei mit das Beste, was passieren konnte, sagt Katharina. Dafür schleppt sie gerne jeden Morgen erst die Tochter, dann den Rollstuhl die vier Treppen zum Auto hinunter und nachmittags wieder hinauf.
Nach der Schule stehen fünf Mal pro Woche Therapie- und zusätzliche Arzttermine auf dem Programm. Dazu kommen noch Telefonate und ein Haufen Papierkram, weil zum Beispiel Hilfsmittel wie ein für Leoni größengerechter Rollstuhl oder ein modernes Sauerstoffgerät aus Kostengründen nicht bewilligt werden. Fast täglich diskutiert Katharina mit Uneinsichtigen, die auf dem Behindertenparkplatz stehen. "Trotzdem versuchen wir uns jeden Tag ein paar schöne Momente zu ermöglichen. Für uns ist das alles normal. Leoni kennt das nicht anders", sagt Katharina. "Außerdem trat irgendwann Frau Danlowski in unser Leben. Ein wahrer Segen!"
Beate Danlowski ist Leiterin des Kinderhospiz- und Familienbegleitdienstes der Caritas. Als die Verzweiflung wieder einmal besonders groß war, holte Katharina den Flyer vor, den sie von einem der vielen Klinikaufenthalte mitgebracht hatte und wählte die darauf stehende Nummer. Seitdem besucht Beate Danlowski die beiden regelmäßig, steht ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Sie ist mit Leoni einen Tag ans Meer gefahren, hilft die Rechte der kleinen Familie einzufordern und kann Dank Spenden für unbürokratische Hilfe sorgen, wenn sich Krankenkasse und Ämter zu lange quer stellen. "Und sie hat uns noch zwei wundervolle Menschen geschickt", ergänzt Katharina: Elisabeth und Valentin, zwei Ehrenamtliche des Kinderhospiz- und Familienbegleitdienstes.
Wenn es um Valentin geht, strahlen Leonis Augen. Einen jungen Mann hatte sie sich von Beate Danlowski gewünscht. Der Student habe es ihrer Tochter angetan, sagt Katharina, "den geben wir nicht wieder her". Einmal in der Woche nimmt er sich Zeit für Leoni. Dann üben sie beispielsweise Tonfolgen am Keyboard. "Aber am liebsten spielen wir Playmobilattacke", erzählt Leoni und grinst wieder. Sie legt den Filzstift zur Seite, formt mit ihrer linken Hand einen Bogen und erklärt: "Man nimmt sich eine Playmobilfigur, spannt sie in eine Schnur und lässt dann los." Mit Valentin ist die Krankheit vergessen, da kann sie für ein paar Stunden ein albernes zehnjähriges Mädchen sein.
Die Ehrenamtliche Elisabeth ist bereits im Ruhestand und so etwas wie eine Ersatz-Oma geworden. Sie holt hin und wieder Leoni von der Schule ab oder begleitet sie zum Arzt. "Manchmal holen wir uns auch ein Stück Kuchen", erzählt Leoni, die Süßes über alles liebt. Katharina ist dankbar für die Unterstützung und schätzt es, selbst einmal bei Elisabeth ihr Herz ausschütten zu können. Wenn sich einer der Ehrenamtlichen um Leoni kümmert, erledigt Katharina Dinge wie Haushalt, Einkäufe oder geht mit Familienhund Bonnie spazieren. Für sich selbst etwas zu tun, fällt ihr schwer: "Ich muss erst wieder lernen, mit freier Zeit etwas anzufangen. Mich einfach auf's Sofa legen kann ich nicht."
Im Juni darf Leoni auf Klassenfahrt. Fünf Tage. "Es ist so toll, dass die Betreuer gesagt haben: 'Wir trauen uns das':" Für Leoni ist klar: "Mama soll sich dann ausruhen." Eine Herausforderung für Mutter Katharina: "Seit sechs Jahren sind wir dann zum ersten Mal so lange von einander getrennt. Uns gibt es sonst nur zusammen oder gar nicht."
Dass Leoni irgendwann gar nicht mehr da sein wird, ist Katharina bewusst: "Ich habe mir viele Gedanken gemacht und genaue Vorstellungen davon, wie es sein soll, wenn Leoni stirbt." Reden möchte sie nicht darüber, vor allem nicht vor Leoni. "Noch geben wir die Hoffnung nicht auf!"
Leoni möchte jetzt erst einmal die Freunde für die Übernachtungsparty einladen und Pläne für den Abend schmieden. "Es soll auf jeden Fall die Blumenkohlpizza geben", entscheidet Leoni.
Text: Christina Bustorf
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