Inklusion in exklusiven Zeiten
Heinz Bude rückte damit in den Blick, dass eine wachsende Zahl
von Menschen sich nicht dazugehörig fühlt, sich an den Rand gedrängt und aus dem Alltag von Arbeit, Politik, Konsum und Zivilgesellschaft ausgeschlossen sieht. In ein Wort gefasst ist das: Exklusion.
Spätestens seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 ist Inklusion in der Bundesrepublik nicht nur Auftrag und Chance für Staat und Gesellschaft, sondern auch in aller Munde. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass die meisten unter Inklusion zunächst die erfolgreiche Integration von Menschen mit Behinderungen verstehen. Mehr noch: Derzeit habe ich den Eindruck, als beträfe Inklusion in erster Linie die Bildungspolitik. Inklusion bezieht sich mitnichten nur auf Schule, sondern auf alle Altersgruppen, alle Lebensbereiche und damit alle Politikfelder. Diese gilt es so zu gestalten, dass sie die Voraussetzungen und Bedürfnisse beeinträchtigter Menschen berücksichtigen. Eine zweite Feststellung ist mir wichtig: Nur weil die UN-Konvention auch in Deutschland gilt, wird unsere Gesellschaft nicht automatisch inklusiv. Es braucht in allen Lebensbereichen noch mehr individuelle wie gemeinsame Anstrengungen.
Ja, es ist viel Arbeit. Aber es ist vor allem gewinnbringend. Alle gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen aus der Sicht beeinträchtigter Menschen in den Blick zu nehmen, sie kritisch zu hinterfragen und sie in deren Sinne zu verändern, birgt ein gewaltiges Innovationspotenzial - und zwar nicht nur zum Besten der Menschen mit Behinderungen, sondern zum Wohl aller. Barrierefrei gestaltete Bahnhöfe nützen nicht nur Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, sondern auch reisenden Familien mit Kinderwagen. Piktogramme im öffentlichen Raum erleichtern nicht nur Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen die Orientierung, sondern auch Einwanderern und Touristen. Bildungsangebote, die von individuellen Lernvoraussetzungen ausgehen, nützen nicht nur den langsamen, sondern auch den schnellen Lernern.
Wie viel hier noch zu tun ist, zeigt der Bericht des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. In seinen abschließenden Bemerkungen zum Staatenprüfungsverfahren Deutschlands beklagt dieser die "in Deutschland übliche gesellschaftliche Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen" und macht deutlich, dass "das Festhalten an den Doppelstrukturen bei Wohnen, Bildung und Arbeit (…) eindeutig konventionswidrig" ist. Es ist höchste Zeit, dass Deutschland die Weichen für eine inklusive Gesellschaft stellt.
Es geht voran, aber zu langsam. Woran das liegt? Das müssen wir uns als Caritas auch selbst fragen. Wenn wir den hehren Anspruch ernst nehmen, heißt das auch, über die parallele Existenz von Sonder- und Integrationseinrichtungen nachzudenken. Denn nach Meinung nicht weniger Experten tragen diese zur Entwicklung von "Restgruppen" und "Restinstitutionen" bei, weil hier lebende und arbeitende Menschen als nicht integrations- und teilhabefähig etikettiert werden. Wohnen, Bildung und Arbeit für Menschen mit Behinderung: Die Caritas - gerade in NRW - ist ein starker Verfechter der Anliegen von Menschen mit Beeinträchtigung. Sie ist ein großer Anbieter von Werkstätten und Wohnformen. Mit Konzepten und Modell-Projekten tragen wir schon jetzt zur schrittweisen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bei. Und ich glaube, das können wir noch viel besser.
Das Wort Exklusion beschreibt eine grundsätzliche soziale Schieflage in unserer Gesellschaft. Suchtkranke, alleinstehende Senioren, Hartz-IV-Empfänger, chronisch Kranke, Prostituierte, Flüchtlinge: Ausgrenzung lässt sich weder einfach auf gesellschaftliche Benachteiligung reduzieren noch durch den Begriff der "relativen Armut" erfassen. Und Exklusion ist nichts, was irgendwie passiert. Exklusion ist eine aktive Verweigerung von Teilhabemöglichkeiten. In diesem Sinne sind unser Auftrag und unsere Arbeit als Anwalt und Partner Benachteiligter und als Mitgestalter von Sozial- und Gesellschaftspolitik immer eins: inklusiv.