Freundlich gewinnend
Ursel Pascheka ist gerne Kundin beim „Carekauf“.Markus Lahrmann
Die Idee ist einfach und überzeugend: Behinderte Menschen arbeiten in einem ganz normalen Supermarkt. Der liegt ohne direkten Konkurrenzdruck in einem Wohnumfeld, so dass den Kunden die bisherigen weiten Wege erspart bleiben. Integration, Stadterneuerung und neue Nahversorgung für ältere Menschen – es gibt anscheinend nur Gewinner. Schaut man genauer hin, tun sich Fragen auf.
Klaus Pollkläsener ist eine beeindruckende Erscheinung: 2,10 Meter groß, kräftig, gute Proportionen. Er sieht aus, als könne er gut zupacken, spricht auch klar und deutlich, vor allem aber freundlich und mit angenehmer Stimme. Ein Handicap ist ihm nicht anzumerken.
"Ich bin Epileptiker", sagt Pollkläsener. Vor fünf Jahren hatte er einen Krampfanfall. Als innerhalb eines Jahres ein zweiter geschah, diagnostizierten die Ärzte Epilepsie. Die Folge: Fahrverbot, Job weg, Suche nach den Ursachen, drei Jahre krankgeschrieben, Einstellung mit Medikamenten. Schon vorher hatte Pollkläsener einen Schwerbehindertenausweis erhalten, weil ihm nach einem Auto-Unfall die Nerven in der Schulter abgestorben waren. Das war in seinem früheren Leben.
In dem hat Klaus Pollkläsener Lebensmittel-Einzelhandelskaufmann gelernt und war vor dem Unfall zehn Jahre lang selbstständig. "Das steckt mir im Blut", sagt er, schon seine Eltern waren in der Branche tätig. Nach dem Unfall stand er vor der Wahl, entweder zum Sozialamt zu gehen oder die Branche zu wechseln. Er entschied sich für eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann. Eine Arbeit, in der man viel unterwegs sein muss. Nach Fahrverbot und Diagnose "Epilepsie" war’s damit vorbei. Pollkläsener war schwerbehindert und wieder arbeitslos. Ein paar Jahre lang.
Dann eines Tages bot ihm der integrative Supermarkt "Carekauf" in Gelsenkirchen die Chance, in seinem Traumberuf wieder anzufangen. Im Dezember 2009 konnte er als "Erstverkäufer" auf einer vom Arbeitsamt geförderten Stelle einsteigen. Er ist medikamentös so eingestellt, dass er keine Anfälle mehr hat, sogar Auto fahren kann er wieder. Auch die Vergesslichkeit unter Stress konnte er abstellen, "weil ich weiß, worauf ich bei mir achten muss", sagt er. Inzwischen vertritt Pollkläsener die Marktleitung während ihrer Abwesenheit. Eröffnet wurde der Supermarkt "Carekauf" - der Name "Care" ist eine Zusammensetzung von Silben aus Caritas und Rewe - vom Caritasverband Gelsenkirchen. Auf rund 720 Quadratmetern bietet der voll sortierte Markt alle Waren des täglichen Bedarfs wie Obst und Gemüse, Milchprodukte, Fleisch- und Wurstwaren sowie Non-Food-Artikel.
"Ich freue mich, dass der Laden hier ist und dass ich hier einkaufen kann", sagt Heinz Weiß, der mit 85 Jahren für die täglichen Einkäufe nicht mehr weit laufen mag. "Als der Laden eingeweiht wurde, hat man uns ja gesagt, dass hier Menschen mit leichten Behinderungen arbeiten", sagt Weiß und fügt hinzu: "Aber die sind sehr freundlich und hilfsbereit." "Carekauf" beschäftigt zehn Mitarbeiter, davon fünf mit Schwerbehinderung, und zwei Auszubildende. "Es war eine sehr schwierige Herausforderung, ein Geschäft aufzumachen an einem Standort, der fast zehn Jahre leer stand", sagt Caritas-Geschäftsführer Christian Stockmann. Das Konzept des Integrationsunternehmens "Carekauf" sieht auch vor, dass dadurch der soziale Brennpunkt "Tossehof" aufgewertet wird. Stadtumbauprozess zur Revitalisierung einer 70er-Jahre-Großraumsiedlung nennt sich diese Etablierung eines Einzelhandelsgeschäftes in einem Hochhausviertel ohne Parkplätze.
Kunden schätzen die Hilfsbereitschaft
"Für uns Ältere, die kein Auto fahren können, ist es sehr angenehm, und ich komme gerne hierher", sagt Ursel Pascheka. "Man merkt gar nicht, dass hier Menschen mit Behinderungen arbeiten", betont sie. Andere Kunden registrieren es durchaus, dass einzelne Mitarbeiter gehandicapt sind. Es kommt vor, dass jemand mit einer Hörbehinderung nicht mitkriegt, wenn ihn ein Kunde anspricht. Ein anderer Mitarbeiter braucht eine Lupe, um die Haltbarkeitsdaten lesen zu können. Doch Beschwerden sind die Ausnahmen, die meisten Kunden schätzen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Mitarbeiter. "Die Leute sind nett, es spielt keine Rolle, dass einige behindert sind", sagt Jacqueline Frei.
Das Konzept von "Carekauf" geht also auf. Der Supermarkt demonstriert die Leistungsfähigkeit und die Motivation von Menschen mit Behinderungen. Das ist die soziale Integration, die sich die Förderer und Geldgeber gewünscht haben: Stadt und Land, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Stiftung Wohlfahrtspflege und Aktion Mensch sowie Caritasverband unterstützen den "Carekauf". Nichtsdestotrotz: Auf mittlere Sicht muss sich das Konzept rechnen, der Betrieb muss wirtschaftlich arbeiten und am Markt bestehen können. Seine Integrationsfunktion kann er nur erfüllen, wenn er nicht dauerhaft auf Zuschüsse angewiesen ist.
Muhammet Toksöz ist extrem weitsichtig und hat daher eine 60-prozentige Schwerbehinderung. Bei seiner Arbeit und im Umgang mit Kunden lässt er sich nicht behindern.Markus Lahrmann
Dass es solche Integrationsunternehmen mehr denn je braucht, hatte bei der Eröffnung des "Carekauf" auch der damalige Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) betont: "Auf der Suche nach einem Arbeitsplatz hatten es Menschen mit Handicap noch nie so schwer wie heute."
Und genau hier liegt der eigentliche Skandal. Menschen wie Klaus Pollkläsener, topqualifiziert und hoch motiviert, haben auf dem ersten Arbeitsmarkt kaum eine Chance. Pollkläsener kann einen dicken Aktenordner mit Absagen auf seine Bewerbungen vorlegen. "Viele Firmen wollen uns nicht, die kaufen sich frei mit der Schwerbehindertenabgabe und stellen andere ein", sagt er. Und der Grund: Menschen mit Behinderungen haben vielleicht ein paar Tage mehr Urlaub oder sind schon mal leichter krank, so fürchten die Firmen.
Arbeit bietet gesellschaftliche Teilhabe
Dass manche Unternehmen Potenzial verschenken, wird deutlich, wenn man sich die Ergebnisse einer Kundenbefragung zum "Carekauf" durch das Büro für Marktforschung ansieht. Vor allem die Mitarbeiter werden gelobt, da sie für die Kunden eine familiäre Atmosphäre vermitteln. Dazu kommt die Nahraumversorgung. "Der karitative Ansatz spielt für die Kaufentscheidung der Kunden nur eine untergeordnete Rolle", sagt Geschäftsleiter Stockmann, "es sind jedoch auch keine Hinweise auszumachen, dass das in negativer Hinsicht die Kaufentscheidung beeinflusst." Ein Vorbild ist "Carekauf" auf jeden Fall: Die Arbeit in einem Integrationsunternehmen gibt Menschen mit Behinderungen nicht nur eine Beschäftigung, sondern vor allem auch eine Chance auf gesellschaftliche Teilhabe.