Evaluation der Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt
Grafik: Institut für soziale Arbeit e. V.
Prävention wirkt!" - Das ist das zentrale Ergebnis eines gemeinsamen Forschungsprojektes der fünf katholischen Bistümer in Nordrhein-Westfalen (NRW) zur Evaluation der Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern, Jugendlichen sowie schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen. Die Bistümer stellten sich ihrer Verantwortung und setzten sich aktiv mit den Bedingungen auseinander, die sexuelle Übergriffe und Gewalt in ihren Gemeinden, Verbänden und Einrichtungen ermöglichten, erklärten die Forscherinnen und Forscher aus Münster, Heidelberg und Berlin bei der Vorstellung der Studie.
Unter der Fragestellung "Kann Prävention wirken, wenn ja, wie?" hatte ein Forschungsteam des Instituts für soziale Arbeit (ISA) in Münster und des Forschungszentrums SOCLES mit Sitz in Heidelberg und Berlin die Aktivitäten und Konzepte der Präventionsarbeit seit 2010 in den Bistümern Aachen, Essen, Köln, Münster und Paderborn untersucht.
Obwohl es schwierig sei, etwas zu messen, das nicht stattfinde, bejahte das Forschungsteam um Milena Bücken und Professor Dr. Christian Schrapper (ISA) sowie Dr. Thomas Meysen (SOCLES) die gestellte Frage im Grundsatz. Indem beispielsweise sexuelle Gewalt eher erkannt, Übergriffe klar als solche bewertet und bearbeitet würden, entfalte Prävention erkennbar Wirksamkeit. Auch in der katholischen Kirche seien die Gestaltung und Umsetzung der Präventionsarbeit nun "in den Mühen der Ebene" angekommen, so das Forschungsteam.
Die große Mehrheit der Menschen, die in der Kirche ehrenamtlich oder beruflich aktiv seien, stehe entschieden hinter den Anstrengungen, sexuelle Gewalt aufzuarbeiten und zu verhindern - auch wenn es Geld koste. Das ergab eine im Rahmen der Studie durchgeführte repräsentative Online-Befragung, an der sich über 5000 Menschen beteiligten.
Betroffene äußern Kritik
Betroffene, die an der Befragung teilgenommen hatten, bewerteten allerdings Aktivitäten und Erfolg kirchlicher Präventionsarbeit deutlich kritischer, hieß es. Mehr als ein Drittel glaubt, es habe sich seit 2010 nichts getan. 37 Prozent gaben an, die Kirche kündige viele Maßnahmen an, halte sie aber nicht ein. Von den Nichtbetroffenen erklärten das nur 14 Prozent. Auch Kinder und Jugendliche äußerten Zweifel, so das Forschungsteam, "ob der Respekt vor ihren Interessen und Ideen - trotz aller Schutzkonzepte und Präventionsprogramme - tatsächlich so tragfähig ist, dass sie sich vor Übergriffen und Verletzungen gut geschützt fühlen können".
Zweifellos, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sei die Präventionsarbeit zu einem bedeutsamen und anerkannten Arbeitsfeld in den katholischen Bistümern in NRW geworden. Zugleich mahnen sie aber auch an, dass die Anstrengungen der Prävention gegen sexualisierte Gewalt weitergeführt und vertieft werden müssten. Zwar suchten Verantwortliche und Mitarbeitende in den Kirchen aktiv das Gespräch mit Betroffenen, um von ihnen etwas über Gelegenheiten, Orte und Strategien sexueller Übergriffe in der Kirche lernen zu wollen. Dies müsse aber qualifizierter und stärker in der Präventionsarbeit verankert werden, empfehlen sie. Deutlich "Luft nach oben" sieht das Forschungsteam auch bei der Beteiligung von Kindern, Jugendlichen sowie schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen. Es gelte daher, Konzepte für eine aktive und wirksame Beteiligung in der komplexen Organisation der Kirche und ihrer Einrichtungen zu entwickeln und zu erproben.
Lern- und Entwicklungsbedarf
Die positiven Botschaften der Studie dürften auf keinen Fall verdecken, "dass wir Lern- und Entwicklungsbedarf haben", sagte der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer. "Uns interessieren deshalb ausdrücklich die Hinweise und Empfehlungen, die uns auf Lücken und Schwachstellen aufmerksam machen. Darum werden wir die Studie sehr ernst nehmen und in einem ersten Schritt durch eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe die konkreten Empfehlungen analysieren, um daraus konkrete Maßnahmen zu entwickeln und diese dann umzusetzen." Zugleich kündigte er an, die Studie in den NRW-Bistümern bekannt zu machen, um damit auch die Verantwortlichen vor Ort in den Pfarreien, Organisationen und Einrichtungen zu ermutigen, sich selbst damit auseinanderzusetzen und die eigene Präventionsarbeit kritisch zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Pfeffer: "Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt in unserer Kirche, aber auch in unserer gesamten Gesellschaft muss von uns allen gemeinsam geführt werden."
Als "eine Bestätigung der engagierten Präventionsarbeit" der fünf NRW-Bistümer wertete Katja Birkner, Präventionsbeauftragte des Erzbistums Köln, die Ergebnisse der Studie. "Wir werden uns mit der Studie intensiv auseinandersetzen und schauen, wo wir unsere Arbeit verbessern müssen."
Auch Betroffenenvertreter Karl Haucke forderte die Kirche dazu auf, nicht nachzulassen. "Das Thema sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und Jugendlichen verbietet es uns, an irgendeiner Stelle der Entwicklungen innezuhalten", sagte Haucke, der Mitglied der Projektbegleitgruppe der Studie war.
"Nur wenn wir bereit sind, unsere Vorgehensweisen immer wieder neu zu überprüfen, werden wir das Erleben Betroffener verstehen lernen und mit einer Neuorientierung in Haltungen und Strukturen darauf reagieren können. Nach der Evaluationsstudie ist vor der Aufarbeitung", so Haucke.
PEK/KNA/ML
Kurzfassung der Studie (Ergebnispräsentation):
https://mam.erzbistum-koeln.de/m/16ba395a0b57e579/original/ErgebnisprasentationPraNRW_20-11.pdf
Abschlussbericht der Studie:
https://mam.erzbistum-koeln.de/m/35778d1e584edfa/original/Abschlussbericht-PraNRW.pdf
Der Missbrauchsskandal und seine Folgen
Die Aufdeckung des Missbrauchsskandals 2010 führte zu einem tiefgreifenden Vertrauensverlust der katholischen Kirche. Der massenhafte Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zeigte massive strukturelle und individuelle Versäumnisse überdeutlich. Die Kirche sah sich mit Forderungen nach Reformen konfrontiert und ergriff Maßnahmen zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und schutzbedürftigen Erwachsenen.
In der Folge erließen die katholischen Bischöfe Präventionsordnungen (2011, überarbeitet 2019), trafen verbindliche Regelungen für alle Bistümer zur Prävention sexualisierter Gewalt und führten verpflichtende Schulungen für Haupt- und Ehrenamtliche ein. Sukzessive wurden (klarere) Verfahren zur Meldung und Verfolgung von Verdachtsfällen eingeführt, unabhängige Ansprechstellen für Betroffene eingerichtet.
Die sogenannte MHG-Studie, die Missbrauchsfälle von 1946 bis 2014 untersuchte, führte zu weiteren Maßnahmen:
Unabhängige Untersuchungskommissionen wurden in den Bistümern eingerichtet, Betroffenenbeiräte und finanzielle Anerkennungsleistungen für Betroffene zugesagt.
Alle katholischen Einrichtungen - neben Schulen, Internaten, Pfarreien auch Caritasverbände und ihre Einrichtungen - müssen Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt entwickeln und regelmäßig überarbeiten.
Markus Lahrmann (ML)