Die Gesellschaft muss stressresistent werden
Caritas in NRW: Was ist Ihre Heimat?
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani: Meine Heimat ist Nordrhein-Westfalen, eigentlich Westfalen. Da fühle ich mich sehr wohl. Meine richtige, echte Heimat ist der Ort, wo ich herkomme, geboren und aufgewachsen bin und wo auch heute noch ein Teil meiner Familie lebt. Das ist die Gegend zwischen Recklinghausen und Dortmund.
Caritas in NRW: Was bedeutet für Sie Heimat?
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani: Heimat ist etwas Abstraktes. Heimat ist da, wo man sich wohlfühlt, auskennt und wo man selbstverständlich dazugehört.
Caritas in NRW: Wo ist für Ihre Eltern Heimat?
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani: Meine Eltern haben eine Herkunftsheimat, das ist Syrien. Sie haben beide vor einiger Zeit darüber nachgedacht, ob sie im Alter nach Syrien zurückkehren. Das war vor dem Krieg. Sie haben dann festgestellt, dass Syrien nicht mehr die aktuelle Heimat sein kann, weil sich beide dafür entschieden haben, in Deutschland zu bleiben.
Caritas in NRW: Haben Ihre Eltern sozusagen zwei Heimaten?
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani: Ja, sie haben sich beispielsweise immer ungefähr in gleicher Weise über deutsche Nachrichten und arabische Nachrichten informiert.
Caritas in NRW: Angesichts der aktuellen Flüchtlingssituation: Wie kann es den Menschen gelingen, in Deutschland eine neue Heimat zu finden?
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani: Man muss sie erst mal aufatmen lassen. Wichtig ist, dass man schnell Klarheit schafft, wie der weitere Verlauf ist, ob die Menschen dauerhaft bleiben dürfen oder nicht. Es gibt nichts Ungünstigeres, als permanent eine Aufenthaltsberechtigung nur um ein Jahr verlängert zu bekommen. Das hat in der Vergangenheit schon sehr nachteilige Effekte gehabt.
Weil viele Menschen wahrscheinlich bleiben werden, muss man von Anfang an mit ihnen so arbeiten, als würden sie für immer bleiben. Der erste Eindruck für die Flüchtlinge war ganz gut. Der erste Eindruck spielt immer eine große Rolle, wenn es um Zwischenmenschliches geht. Der erste Eindruck war Willkommenskultur, das, was weltweit auch so genannt wurde. Auch dass kaum ein anderes Land auf der Welt so sehr geholfen hat, hat einen guten Eindruck hinterlassen. Wenn man jetzt einfach das tut, wonach es aussieht: sich Mühe geben, Ressourcen dahin fließen lassen und geduldig sein, dann besteht überhaupt kein Zweifel, dass hier ganz viele Menschen eine neue Heimat finden werden.
Caritas in NRW: Die Caritas sagt: "Zusammen sind wir Heimat." Welche Zutaten braucht das?
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani: Das ist ein ganz schwerer Punkt. Wenn es wirklich so ist, dass man Verschiedenheit - also jeder darf leben, wie er möchte, und wir halten irgendwie zusam-men -, wenn man so seine Heimat definiert, wenn das wirklich die Menschen so sehen, dann ist das super. Dann ist das auch offen genug, dass sich jeder wohlfühlt und einbringen kann. Ich bin nur vorsichtig, ob das in der breiteren Öffentlichkeit wirklich so gesehen wird. Für die Caritas mag das gelten. Das finde ich eine schöne Sache.
Denn "Zusammen sind wir Heimat" meint, dass eigentlich jeder unterschiedlich ist, und wir machen zusammen trotzdem - obwohl wir unterschiedlich sind - etwas gemeinsam, und das nennen wir dann Heimat. Heimat ist also das gestaltbare Ergebnis des Zusammenlebens. Das ist eine sehr flexible, zeitgemäße und globalisierungsadäquate Idee.
Caritas in NRW: Sie sagen: Integration funktioniert, aber es ist anstrengend. Wieso?
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani: Integration bedeutet, dass mehr Menschen am Tisch sitzen, mehr Menschen ihre Interessen äußern. Das führt dazu, dass es mehr Möglichkeiten gibt für Konflikte. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich ganz viel ändert: vom Begrüßen, von der Nahrungsaufnahme über grundlegende Dinge, auch Rechtsvereinbarungen - all das hat sich schon verändert, und dies wird sich weiter fortsetzen. Es muss reflektiert werden, überlegt werden, diskutiert werden, um zu einem tragfähigen Miteinander zu kommen. Es wiederholen sich die gleichen Probleme immer wieder, wenn Menschen ins Land kommen. Diese Menschen müssen unsere Sprache erlernen, sie kennen sich nicht aus und werden Zeit brauchen. Wenn sie integriert sind, dann werden sie ein Teil des Ganzen, was bedeutet, dass sie mitgestalten, ihre Interessen artikulieren und mitdiskutieren werden. Die Gesellschaft muss also stressresistenter werden, und das Thema Einwanderungsland muss viel stärker diskutiert werden. Migrationssensibilität nenne ich das Zusammenspiel von Wissen und Haltung zum Thema Migration. In Einwanderungsländern sollten darüber nicht nur spezielle Fachkräfte verfügen, sondern auf einem gewissen Niveau weite Teile der Bevölkerung.
Wenn man sich das Ruhrgebiet anschaut, sieht man trotz der vielen Probleme auch diese Stressresistenz: Nicht bei jeder Kleinigkeit bereits Unmut äußern, sondern relativ lange warten. Meistens regeln sich die Probleme ja von alleine.
Wenn man mal schaut, welche Oberbürgermeister auf die Flüchtlingskrise am empfindlichsten reagiert haben, waren das tendenziell Oberbürgermeister von sehr wohlhabenden Städten. Die haben einen super Stadtentwicklungsplan entwickelt, und jetzt kommen Flüchtlinge - und alles Makulatur. Hier im Ruhrgebiet wird überhaupt nicht langfristig geplant, deswegen war es überhaupt gar nicht ein so großes Problem.
In unserem Land wollen immer mehr Menschen mitmachen, und immer mehr Menschen diskutieren mit, und immer mehr verändert sich, und das geschieht immer schneller. Und das überfordert ganz viele. Gleichzeitig macht es für andere das Ganze so attraktiv. Was sind die attraktivsten Orte? Irgendwelche Großstädte, die gar nicht international genug sein können. Das ist das, was gerade interessant ist. Und warum? Es sind Orte der Überraschung, so sagen das Stadtsoziologen, und im Prinzip Orte, in denen
- weil jeder fremd ist - die Anonymität so richtig Spaß macht.
Caritas in NRW: Vielen Dank für das Gespräch!
Fragen: Michael Kreuzfelder und Markus Lahrmann
Aladin El-Mafaalani:
Migrationssensibilität - Zum Umgang mit Globalität vor Ort
Weinheim: Beltz Juventa 2015 - 140 Seiten
ISBN 978-3779919643